Gedanken zum Frühling:Raus ins Grüne?

Sonnenbad am Ammersee

Frühling am Ammersee in Bayern: Wo lauert hier die Gefahr?

(Foto: dpa)

Ob Tierschützer, Asthmatiker oder Feuerwehrleute - alle warnen sie auf einmal vor dem schönen Wetter. Aber warum? Ist der Mensch denn nicht mehr fähig, einfach mal zu genießen? Eine kleine Frühlingspolemik.

Von Martin Zips

Es war erst Anfang März, als uns diese Meldung aufschreckte: "Zecken sind schon jetzt aktiv." Tierschützer warnten, die milden Temperaturen könnten Blutsauger bereits jetzt "aus ihrem Versteck" locken. Eine große Gefahr für Hund, Katze, Mensch. Ist sicher richtig: Mehr als 100 000 Deutsche erkranken jährlich durch Zeckenbiss an Borreliose, etwa 300 an Frühsommer-Meningoenzephalitis. Besonders gefährliche Infektionsorte sind laut dem in einer anderen Meldung zitierten Karlsruher Institut für Technologie: die Rheinauen und der Stadtpark.

Aber auch sonst lauert Gefahr im Grünen. Denn, so der Deutsche Wetterdienst: "Die Natur hat vier Wochen Vorsprung." Überall Pollen! Und: "Nach drei Tagen ohne Regen steigt die Waldbrandgefahr." Im Bergsportmagazin Alpin wiederum beschreibt ein Artikel, wie schädlich frische Milch sein kann. Also Vorsicht auf der Alm! Überall Ehec und Campylobacter. Weiß zumindest die zitierte Expertin für mikrobielle Toxine in Lebensmitteln. Als man all das gelesen hatte, hatte man schon keine Lust mehr auf den Frühling. Wozu rausgehen, wenn in Rheinauen, Stadtpark und auf der Alm sicher auch noch Ozon, Feinstaub und der Fuchsbandwurm auf einen warten?

"Sie müssen solche Warnmeldungen lesen wie der österreichische Kabarettist Helmut Qualtinger Hitlers ,Mein Kampf'", rät der emeritierte Dortmunder Philosophieprofessor Werner Post. "Also so, dass man über all das Schlechte am Ende furchtbar lachen muss." Post hat vor drei Jahren ein kluges Buch über die Acedia geschrieben, die weit verbreitete menschliche Unfähigkeit, den Augenblick vorbehaltlos zu genießen. Ein Phänomen, das bei den frühen christlichen Mönchen beobachtet wurde, die sich gegenseitig in ihrer asketischen Lebenshaltung übertreffen wollten.

Auch in der heutigen, auf Leistung, Fitness, Effizienz getrimmten Welt findet Post "das Laster" immer wieder. "Wir reden ja oft davon, dass es zu wenig Sinn in der Gesellschaft gibt. Ich sehe es eher so, dass es zu viel Sinn gibt. Man kann sich vor Ratschlägen ja kaum retten." Für echten Genuss dessen, was der Augenblick gerade bietet, bleibt da nicht mehr viel Raum. In genussvolleren Zeiten konnten sich die Leute noch gegenseitig Mörike vorlesen: "Frühling lässt sein blaues Band . . ." Aber das Gedicht kennt heute eh keiner mehr. Die Genussfeindlichkeit macht eben auch vor der Lyrik nicht Halt.

Sind wir noch genussfähig?

Laut psychologischen Studien ist ein Viertel der Deutschen tatsächlich nicht oder nur sehr eingeschränkt genussfähig. Im Osten und im Norden genießt man noch weniger als in der Mitte und im Süden. Die Lösung: mehr Gelassenheit, weniger Hektik. Leichter gesagt als getan. Schon der Philosoph Blaise Pascal warnte: "Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen." Wir halten uns selber nicht aus. Typisch Mensch oder typisch deutsch?

Anna Katharina Schaffner, aus Darmstadt stammende Komparatistin an der Universität Kent, befasste sich kürzlich in der Times mit dem Phänomen "German Burn-out". Die Trägheit Bismarcks, die Diätsucht Nietzsches, der Askesewahn von Cosima Wagner, die protestantische Depression von Max Weber und der Selbstoptimierungsdrang von Franz Kafka, Thomas Mann und Rainer Maria Rilke ("Du musst dein Leben ändern") sind nur einige ihrer Beispiele. Schaffner, 35, fragt: Wie kommt es, dass viele Deutsche auch heute nichts genießen können? "Schließlich ist Deutschlands Wirtschaft die stärkste in Europa, Einkommen und Lebensqualität sind höher als bei den meisten seiner Nachbarn." So viele deutsche Urlaubstage gibt es - und jetzt auch noch Frühling im März!

Woher kommt die deutsche Negativkultur?

Woher also kommt die unerklärliche deutsche Negativkultur? Schaffners Antwort: "Der Erschöpfungszustand scheint in Deutschland historisch mit einem allgemeineren Kulturpessimismus verbunden zu sein", so die Komparatistin. "Die Einstellung zur Arbeit wirkt existenzieller als bei anderen, der Perfektionismustrieb größer - da sind Scheitern und Schwermut angelegt." Mit anderen Worten: Uns mag eh keiner. Also buckeln wir uns durch den Alltag.

"Unsere Gesellschaft leidet unter metaphysischer Miesmacherei", poltert Philosoph Post. "Ich spüre eine hypochondrische Grundstimmung. Bei allem, was man tut, könnte ja irgendetwas mit Krebs die Folge sein. Dabei leben wir heute doch länger denn je." Bereits Thomas von Aquin hatte vor der übrigens zu den Todsünden zählenden Acedia gewarnt. Wer sich der "Freude am göttlichen Gute" entziehe, der war in seinen Augen ein Frevler.

Bei der Frage, wie man den Frühling am besten genießen kann, hilft einem am Ende wohl der Ausspruch des französischen Literaten François de La Rochefoucauld am besten weiter: "Es ist besser, wir brauchen unsern Verstand, gegenwärtige Unfälle zu ertragen, als kommende zu erforschen". Ganz ruhig also. Nicht immer gleich panisch werden. Ein Wort, das ja auf Gott Pan zurückgeht, der die Hirten im Wald mit seiner Nacktheit erschreckte. Aber das heißt jetzt nicht, dass man am Wochenende nicht rausgehen sollte, weil dort neben Zecken und Pollen auch Exhibitionisten auf einen warten. Zum Beispiel in den Rheinauen. Oder im Stadtpark.

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