Frust:Denn wie man sich rettet, so lebt man

Die beiden nächsten Monate werden die schlimmsten. Eine Berliner Vorrwinterreise in den Untergrund und zurück ans Licht: Wie uns in trüben Tagen das Schöne tröstet - aber manchmal auch das Blöde.

Von Benjamin Henrichs

Das Grauen. Die beiden nächsten Monate werden die schlimmsten. Das ist zwar jedes Jahr so, aber jedes Jahr aufs Neue ist es ein Schock. Man schaut bange aus dem Fenster und muss mitansehen, wie (langsam, aber grausam-unaufhaltsam) das Licht aus der Welt verschwindet. Wie jeder Tag kürzer wird als der Tag zuvor - und zumeist auch dunkler, nasser, kälter.

Hier, in der Lichtfrage, wären radikale Korrekturen dringend erwünscht und zwar sofort! Aber leider zeigt sich jenes Gebilde, das wir Schöpfung nennen, komplett reformresistent. Alles kann passieren, alles kann sich ändern, eines aber ist gewiss: In einer Woche schon übernimmt der graue König November die Regierungsgeschäfte am Himmel. Und wir alle werden seine fröstelnden Untertanen sein, ob wir wollen oder nicht.

In zwei Monaten, am kürzesten aller Tage, wenn der Winter beginnt, wird es dann alsbald besser werden. Der Tiefpunkt ist auch der Wendepunkt, das Jahr beginnt die Rückfahrt ins Licht. Die Tage werden täglich heller. Der Raureif kommt und auch der erste Schnee. Die Weihnachtskerzen und die Silvesterraketen erleuchten die Szene.

Präsident und Kanzler, Köhler und Schröder halten ihre Jahresansprachen und entzünden die Funzel der Zuversicht. Dann geht es aufwärts, dann sind wir gerettet, dann kommt das Schiller-Jahr 2005 samt der Oden an die Freude.

Die Engel. Wie aber erreicht der Verzagte jenen jetzt noch so fernen Tag? Ein Retter wird dringend gesucht, doch beim Blick aus dem Fenster sieht man keinen. Dabei weiß man genau, wie solche Leute aussehen müssen. Wie der Heilige Georg, der den Drachen tötet (aber leider nicht den despotischen Abteilungsleiter). Oder wie der Cherub bei Kleist, der uns aus den Flammen führt. Oder wie der Reitende Bote bei Brecht, der uns vor dem Galgen bewahrt. Oder wie der Gott aus der Maschine, in den Stücken der Alten.

Als bewährte Lebensretter bieten sich fernerhin an: Die Prediger der Weisheit, zwischen Sarastro und Sloterdijk. Die große, alles wendende Liebe, das ewig Weibliche also, welches nur leider, wie unser Nationaldrama uns lehrt, häufig mit dem ewig Teuflischen verbündet ist.

Retten könnte uns natürlich jetzt auch das richtige, das tröstende, das alles erklärende und erleuchtende Buch. Oder auch, seit jeher die einfachste Lösung: die Flucht aufs Sofa oder unter die warme Winterbettdecke. "Es gibt", so steht es natürlich nicht beim erhabenen Schiller, sondern beim niederträchtigen Thomas Bernhard, "nichts Schöneres als einen verregneten Nachmittag im Bett".

Der Rappelkopf. Wenn der November naht, sind die Strände verwaist, die Biergärten geschlossen. Höchste Zeit also, nach einem Winterparadies zu suchen. Im Museum kann man den Drachentöter wiedersehen. Im Kino kann man das Mädchen mit dem Perlenohrring treffen und die Mysterien der Liebe. Aber auch das Schauspielhaus erzählt zur Zeit eine Geschichte von Not und Errettung: "Untertagblues". Peter Handke hat sie geschrieben, und sie spielt dort, wo noch weniger Sonne scheint als im düstersten November, in der Untergrundbahn.

Trauriger Held ist ein Verzweifelter, der sich aus der Verzweiflung in die Verwünschung retten möchte: ein so genannter Wilder Mann, der seine fast immer stummen Mitreisenden rauschhaft beschimpft. Ein übler Stänkerer, aber in seinen Hassgesängen manchmal auch: ein neuer Orpheus in der Unterwelt.

Gerettet wird der Wilde Mann von einer so genannten Wilden Frau. Sie beschimpft den Beschimpfer, oder, wie es im "Hamlet" heißt: Sie übertyrannt den Tyrannen. Und erringt einen schnellen, triumphalen Sieg: Der Wilde Mann legt seine Waffen, seine bösen Wörter, nieder - und ist von der Menschenfeindschaft glücklich geheilt. Der Rappelkopf hat seine Ruhe. Bevor er rückfällig werden kann, ist das Märchen gottlob vorbei.

Ein wahres Wiener Zaubertheater ist zuende: Aus Handke, dem Kampfhund, ist Handke, die Nachtigall, geworden. Solche Sänger, solche Retter braucht der Mensch! Und morgen schon, ganz in der Frühe, werden wir seinen Spuren folgen.

Die Reise. Der Fußweg von unserer Wohnung zum Berliner U-Bahnhof Hansaplatz ist nicht besonders spektakulär. Eine vierspurig lärmende Autostraße, in der Mitte eine schöne Kastanienallee. Die Bäume allerdings, von der Kastanienmotte zernagt, von den ersten kalten Ostwinden zerrupft, haben fast schon ihren winterlichen Nacktzustand erreicht.

Heute morgen nun gehen wir den vertrauten Weg mit ganz anderen Augen als sonst. Mit dem Peter-Handke-Blick - den wir uns gestern Abend im Theater, beim "Untertagblues", zugezogen haben. Jede Einzelheit, gerade die banalste, ist wichtig, nichts darf übersehen werden. Denn alles könnte ein Lichtblick werden, ein Leuchtzeichen, ein Wegweiser in Richtung "geglückter Tag".

Schon der Hundesalon an der Ecke löst heute einen kleinen inneren Begeisterungssturm aus, denn über seinem Eingang steht: "Mondo Cane - die ganze Welt zärtlicher Hundepflege". Schräg gegenüber, beim Supermarkt, begrüßt uns das Wort "Geflügelgenuss" im Schaufenster: "Geflügelgenuss - ganz sicher". Und der winzige Friseurladen, hundert Meter weiter, heißt tatsächlich "Salon Strubbelpeter", was uns immer schon erfreut hat, heute aber ganz besonders.

Denn es zeigt, dass nicht nur die großen, ruhmreichen Dichter an unserer Errettung arbeiten, sondern auch die kleinen, anonymen Poeten des Alltags - so weit sind die Frittatensuppe von Thomas Bernhard und der Geflügelgenuss im Supermarkt gar nicht voneinander entfernt. Weder als poetische Wörter noch als fleischliche Tatsachen.

Der Dichter Peter Handke wiederum, dies fällt uns ein, während wir ratlos auf die Touchscreen des Fahrkartenautomaten starren, ist immer schon so etwas wie ein Lebensreisebegleiter gewesen - der uns oft erleuchtet, vielleicht sogar gerettet hat und uns nur manchmal ein wenig auf die Nerven geht. Wenn er sich wieder mal als Lebensreiseleiter aufspielt und strenge Kommandos gibt, wie man den Zustand der wahren Empfindung zuverlässig (und möglichst ohne Umsteigen) erreicht. In solchen, seltenen, Augenblicken kommt uns der Dichter dann nicht mehr wie ein Schutzengel, sondern wie ein Fahrkartenkontrolleur vor.

Doch nun hat unsere Reise durch den Untergrund schon begonnen! Linie 9, Linie 2, Linie 5. Mal sehen, wie viele wilde Männer oder wilde Frauen heute unterwegs sind. Oder ob man selber den wilden Mann in sich spüren wird.

Denn wie man sich rettet, so lebt man

Die Verwünschung. Der bequemste Weg zur eigenen Errettung ist bekanntermaßen die Vernichtung des lieben Mitmenschen, zumindest in Worten und Gedanken. Oder gleich, noch besser: die Verfluchung der ganzen, missratenen Schöpfung. Die Poesie ist (mehr noch als das Leben selber) eine chaotische Vollversammlung von Misanthropen, Schmährednern, Hasspredigern. Sie wollen uns fertig machen, aber das schaffen sie dann doch nicht! Denn natürlich durchschauen wir ihre perfide Methode ("Hass bringt Spaß") und machen sie uns selber zunutze.

Der Querulant ist so etwas wie ein unaufhörlich, lustig qualmender Schornstein: Er stößt den Dreck aus seinem Inneren in Richtung Himmel. Und blickt vergnügt den Staubwolken nach. Er fährt mit der U-Bahn, schaut die Mitreisenden an und denkt: Es ist die Hölle! Und macht es sich höllisch gemütlich, wärmt sich an der Verachtung.

So könnte es gehen. Heute aber geht es so nicht. Denn wir sehen auf dieser Vormittagsreise durch den Hauptstadt-Untergrund absolut keinen, den zu beschimpfen eine Lust wäre. Die Menschen, die siegreich im Leben stehen, sind jetzt schon in ihren Büros und Redaktionen. Die vom Leben Besiegten wiederum fahren entweder andere Strecken oder reisen lieber nachts.

So geht die Fahrt friedlich, dämmrig, undramatisch dahin. Man ist also gleichzeitig in die U-Bahn eingestiegen und aus dem Leben ausgestiegen. Nicht in der Hölle angekommen, sondern in einer mobilen, geräderten Höhle. An den Stationen schaut man aus dem Fenster und sieht auch dort nichts, was einen unnötig aufregen würde. Eine Plakatwand zum Beispiel mit einem Berliner Teddybären, der ganz aus Kondomen gebastelt wurde, dazu die niedliche Losung: "Gummi, Bärchen!". Das ist die Berliner Lust ...

Auf dem Bildschirm hoch oben im Waggon wiederum erscheint nun, nach dem unvermeidlichen Wetterbericht, die schönste Nachricht des Tages: Eberhard Diepgen hat ein neues Buch geschrieben. Wie tröstlich das alles doch ist! Leider hat man Diepgens altes Buch noch gar nicht gelesen!

Die Versöhnung. Unaufhörlich wartet der Mensch auf den Retter. Auf das "Wunderbare", wie Ibsens Nora sagt, bevor sie ihren Gemahl verlässt oder, in der neuzeitlichen Version, mit dem Revolver niederschießt. Aber der Mensch wartet nicht nur auf die Rettung, er ist nimmersatt und nimmermüde für die eigene Rettung tätig. Er ist, erst das erklärt den Erfolg unserer Spezies, der listenreichste Selbsterrettungsvirtuose. Anders gesagt: eine niemals stillstehende, fast niemals versagende Optimismusmaschine.

Es gibt eindeutig gute Tatsachen und eindeutig böse, da ist wenig zu machen. Aber die meisten Ereignisse des Lebens lassen uns die freie Wahl, ob wir sie trostlos oder tröstlich finden wollen. Eine U-Bahn-Fahrt zum Beispiel wie diese kann man für eine Zeitverschwendung halten, aber auch für eine Begegnung mit dem Zauber des Alltäglichen. Wer auf der Suche nach einer Euphorie ist, der findet sie meistens auch - das ist nicht anders, wenn man sich, statt in die Metro, in eine Kirche, einen Konzertsaal oder in ein Theater begibt.

Am Ende dient doch alles der eigenen Stärkung: Man kann die Hässlichkeit der Welt verfluchen oder die Schönheit der Schöpfung feiern, Erleichterung bringt beides. Wer genügend Übung darin hat, das Unauffällige heilig zu sprechen, wer jene Kunst beherrscht, die García Márquez das "chronische Romantisieren" genannt hat, der ist gegen die unvermeidlichen täglichen Ernüchterungen immerhin notdürftig gewappnet.

Dass uns das Schöne rettet, ist wahr und wohl bekannt. Aber gibt es nicht auch die Erlösung durch das Blöde? Die Rettung durch den Schwachsinn? Nicht nur das ewig Weibliche, auch das ewig Dämliche zieht uns manchmal hinan.

Nehmen wir nur diese beiden bekannten und erfolgreichen Plagen aus der Fernsehwelt: die Volksmusikorgie und den Talkshowexzess. Beide Spektakel sind gleich zweifach rettend wirksam: Sie beglücken ihre Teilnehmer, alle Mitsänger und Mitschwätzer. Aber sie verschaffen eben auch ihrem Verächter eine grimmige Genugtuung - so tief, dass er hier mitsingen und mitreden müsste, ist er dann doch noch nicht gesunken.

Wer nach dem Rettenden Ausschau hält, muss nicht lange suchen. Jeder Blödmann ist ein Trost für die Halbgescheiten. Jeder Fettsack eine Erleichterung für die Vollschlanken.Anders gesagt: Jeder Tag unseres Lebens ist eine Rettungsaktion - und als geborene Untergeher können wir nicht wählerisch oder gar vornehm sein beim Griff nach den Rettungsringen.

Die Politiker, um zuletzt auch an sie noch zu denken, sind für unsere seelische Ertüchtigung geradezu unersetzlich. Weil sie gleich zwei klassische Rettungsstrategien in Gang setzen: die Verehrung und die Verachtung. Wir brauchen sie als Vorbilder, wir brauchen sie als Versager, in beiden Rollen tun sie uns gut. Es ist nicht sicher, dass wir uns besser fühlen würden, wären sie besser, als sie sind.

Endstation Licht. Dreimal auf unserer langen Reise in den Osten sind missmutige Kontrolleure in den Waggon gekommen, dreimal mussten sie ohne Beute wieder abziehen. Ihre unfrohen Gesichter dabei zu sehen, das war schon eine kleine Freude.

Und jetzt kommt es sogar noch besser, denn jetzt kommt Musik in die Unterwelt. Im quälenden Berliner Normalfall können die U-Bahn-Sänger nicht singen, sind die Bettelmusikanten vollkommen unmusikalisch. Doch diese Russen jetzt (ein Sänger, zwei Männer mit Akkordeon) legen einen könnerhaften, einen geradezu zigeunerhaft rasanten Auftritt hin.

Nur eines stört ein wenig: Dass der vierte Russe, der Mann mit dem Pappbecher, der Prozession habgierig vorangeht, nicht bescheiden seinen Künstlern folgt. Aber ist es denn anders, wenn man ins Theater geht? Erst das Geld, dann der Handke, das ist der Lauf der Welt.

Kurz vor Biesdorf-Süd verlässt unser Zug den Untergrund, fährt zurück ins Tageslicht. Die Herbstsonne hat inzwischen den Nebel vertrieben. Es wird so hell plötzlich, dass man die Augen zusammenkneifen muss.

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