Frankreichs Haftanstalten:Ein Bett, ein Tisch, ein Grauen

In den französischen Gefängnissen herrschen skandalöse Zustände: Die Zellen sind maßlos überbelegt, es wimmelt von Kakerlaken, täglich kommt es zu Vergewaltigungen. Aber die Politiker verschließen die Augen.

Von Gerd Kröncke

Der Abschiebehäftling Holger Pfahls sitzt nun seit 160 Tagen in einer Zelle in einem besonders alten Gefängnis und wartet, dass er endlich nach Deutschland darf. Er ist, wie die Franzosen es leicht euphemistisch nennen, Pensionnaire in der einzigen Pariser Haftanstalt La Santé, einem Trutzbau aus dem 19. Jahrhundert.

Frankreichs Haftanstalten: Nichts hat sich geändert außer zum Schlimmeren, mit einer Überbelegung, die alle Rekorde schlägt.

Nichts hat sich geändert außer zum Schlimmeren, mit einer Überbelegung, die alle Rekorde schlägt.

(Foto: Foto: Reuters)

Als der in Deutschland wegen des Verdachts von Korruption und Steuerhinterziehung verfolgte ehemalige Staatssekretär vorigen Monat überraschend seiner Auslieferung zustimmte, weil er die Haftbedingungen einfach nicht mehr aushalten wollte, war das deutsche Echo nicht ohne Häme.

"Laus im Pelz, nix wie weg", kommentierte der Augsburger Richter Eberhard Etter, "launig", wie es in der Agenturmeldung hieß. "Jetzt kommt der Advent, das heißt ja Ankunft", sagte Richter Etter zu Pfahls Sinneswandel. So lässt sich trefflich scherzen, wenn man Richter ist und nicht Gerichteter.

La Santé ist vor ein paar Jahren zu einer traurigen Berühmtheit gelangt, als die Gefängnisärztin Véronique Vasseur auf die skandalösen Zustände aufmerksam machte, die dort herrschen. Es hat nichts genützt, schließlich hat sie resigniert, wurde aus dem Staatsdienst herausgeekelt.

Damals haben ein paar Prominente eine Art Vereinigung gebildet, um die unerträgliche Situation zu ändern. Männer, auch ein paar Frauen, die selbst gesessen hatten, manche unschuldig in U-Haft, manche rechtskräftig verurteilt. "Die ersten Stunden im Gefängnis werden immer Teil meiner Existenz bleiben", sagt Bernard Tapie, der tief gefallene ehemalige Minister.

Es gibt eben Erniedrigungen, die sich ein Mensch mit seinen alltäglichen Sorgen kaum vorstellen kann. Dabei sind die Prominenten in der Santé vor dem Schlimmsten geschützt, sie hören nur von Ferne, was den gewöhnlichen Gefangenen passiert.

Was heißt schon Promiskuität unter Männern? Und wer kann sich in seinem normalen Alltag vorstellen, vergewaltigt zu werden, ohne dass dies geahndet würde? Auch im Prominententrakt hören sie die Schreie der Neuangekommenen, auf die andere schon gewartet haben, um sich ihrer zu bedienen.

Ein Bett, ein Tisch, ein Grauen

Das alles hatte die Ärztin Véronique Vasseur schon beschrieben. "Danach war viel von Reformen die Rede", erinnerte sie sich jüngst aus dem selbst gewählten Ruhestand, "von bewilligten Geldern; aber seither - nichts. Nichts hat sich geändert außer zum Schlimmeren, mit einer Überbelegung, die alle Rekorde schlägt."

Das trifft für mehr als die Hälfte der 185 französischen Gefängnisse zu, in etlichen büßen doppelt so viele wie vorgesehen. Nie seit dem Zweiten Weltkrieg wurden in Frankreich so viele Menschen weggesperrt.

"Warum sperrt man mich mit anderen zusammen?"

Inzwischen sind es mehr als 65.000 in Gefängnissen, die mit 50.000 eigentlich voll wären. Gut jeder Zweite hat psychische Probleme. "Es gibt zu viele", findet die UMP-Abgeordnete Christine Boutin, "die nichts im Gefängnis zu suchen haben".

Auch ihre sozialistische Kollegin Elisabeth Guigou, einst Justizministerin der Regierung von Lionel Jospin, besucht gelegentlich ein Gefängnis. Beim letzten Mal traf sie einen Häftling, der sich beklagte: "Ich bin hier, weil ich die Menschen nicht aushalten kann. Warum sperrt man mich mit anderen zusammen?"

Die meisten Anstalten wurden lange vor dem Ersten Weltkriege gebaut, aber selbst die neueren haben ihre Fortschrittlichkeit längst hinter sich. Die Haftanstalt von Perpignan zum Beispiel, mit einer Überbelegung von fast 300 Prozent, galt bei ihrer Einweihung in den Achtzigerjahren als mustergültig.

Heute sind, wie eine Gewerkschaft der Gefängniswärter beklagte, in einer Einzelzelle von 9,6 Quadratmetern drei Menschen eingesperrt. Sie teilen sich, 21 Stunden am Tag: ein Etagenbett, einen Tisch, zwei Stühle, einen Spind, einen an der Wand fixierten Fernseher, eine Toilettenecke mit Waschbecken und WC, die eher symbolisch vom Rest der Zelle abgetrennt ist.

Am Abend wird eine Matratze hervorgezogen, die der zuletzt Hinzugekommene zum Schlafen braucht. Und das alles inmitten von Kakerlaken, des Nachts wagen sich auch Ratten und Mäuse hervor. Wer aufs Klo will, muss über den Zellengenossen hinübersteigen, der auf der Matratze schläft.

Es gibt einen gewissen Konsens zwischen der Linken und der Rechten. Wenn Regierungen wechseln, ändert sich gar nichts, weil Gefängnisreformen die Wähler schrecken. Christine Boutin ist immer aufs Neue entsetzt über den Strafvollzug. "Die Linke hat versagt", urteilt sie, "und die Rechte ist blind."

Gewiss müsse man neue Anstalten bauen, aber nicht, um die Kapazitäten zu erweitern, sondern um das Gefängnis menschlicher zu machen. Madame Boutin plädiert für einen Numerus clausus, auch wenn weniger einsperren gegen den Zeitgeist geht.

Die viel propagierte Zero-Toleranz ist einer der Gründe der Überbelegung. Da werden Männer eingesperrt, die den Unterhalt nicht bezahlt haben (was den Unterhaltsberechtigten in der Regel wenig weiter hilft), oder jene, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen können und deshalb die Tagessätze absitzen müssen. Oder es trifft den jungen Mann, der auf seinem Motorroller mit einem Promille Alkohol erwischt worden ist.

Dass mehr verurteilt wird, führt auch zu einer Verschiebung der ethnischen Zusammensetzung der Gefangenen. In vielen Anstalten im Umkreis der großen Städte ist inzwischen der Islam weiter verbreitet als in der Bevölkerung.

Nicht selten sind die Hälfte von ihnen Muslime, manchmal geht der Anteil bis zu 80 Prozent - bei einem Bevölkerungsanteil von sieben oder acht Prozent. Der Gefängnisdirektor von Fresnes bei Paris hat festgestellt, dass 70 Prozent seiner Häftlinge sich an den Ramadan halten.

Sie klagen darüber, dass sie keinen Imam haben. Nur ein paar Dutzend gehen in die französischen Gefängnisse, hingegen an die 500 katholische Priester. Draußen hat man sich daran gewöhnt, dass in manchen Schulen die Mehrheit der Kinder kaum oder schlecht französisch spricht. Wenn diese Kinder groß geworden sind, bevölkern sie die Haftanstalten.

Ein Bett, ein Tisch, ein Grauen

"Wenn ich sehe, wie die Leute applaudieren, wenn immer mehr eingesperrt werden", klagt Madame Boutin von der konservativen Mehrheitspartei UMP, "dann macht mich das traurig." Die einsame Ruferin war übrigens neulich bei der Wahl des UMP-Vorsitzenden die Gegenkandidatin von Nicolas Sarkozy, der als Innenminister nicht nur für Recht und Ordnung sorgte, sondern auch dafür, dass die Gefängnisse noch mehr aufgefüllt wurden.

Zudem versucht jede neue Regierung der Justiz ihren Stempel aufzudrücken, durchschnittlich gibt es alle zwei Jahre einen neuen Justizminister, so dass sich die Szene nie beruhigt.

Der derzeitige Ressortchef, Dominique Perben, hat ein Bauprogramm für die kommenden Jahre angekündigt, mit dem Zellen für 7000 Häftlinge neu errichtet und ein paar Tausend alte saniert werden sollen. Weil nicht erst seit Sarkozy die Innenminister immer neue Straftatbestände schaffen, werden auch die neuen Zellen bald wieder überbelegt sein.

Die tolérance zéro, auf der Sarkozy beharrte, wonach auch Prostitution, sogar aggressives Betteln zu Delikten erklärt wurden, die mit Haftstrafen geahndet werden, bringt vielleicht Wählerstimmen, sorgt aber für weitere Spannungen hinter den Gefängnismauern.

"Eines schönen Tages wird es eine Explosion geben", sagt Yves Peirat, der einmal 39 Monate gesessen hat, weil er Bomben gegen Büros der rechtsradikalen Nationalen Front gelegt hat. "Zu zweit auf neun Quadratmetern, das ist schon hart. Aber zu dritt oder viert, das ist unbeschreiblich. Wenn morgen Shit und Fernsehen gestrichen würden, dann würden die Gefängnisse brennen."

Schon jetzt ist die Situation explosiv. Gelegentlich weisen internationale Organisationen auf die Zustände hin, die eines zivilisierten Landes unwürdig sind. Zuletzt hat das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter, eine Institution des Europa-Rates, die unhaltbaren Zustände angeprangert. Die französischen Haftbedingungen seien oft "inhuman und erniedrigend", hieß es in einem Report dieses Jahres. Nicht dass dies eine neue Erkenntnis wäre, schon voriges Jahr trug ein Report des französischen Senats den Titel: "Gefängnisse, eine Erniedrigung der Republik."

Mit dem Fernseh-Kabel

Manche, an denen das praktiziert wird, halten es nicht aus und bringen sich um. Auch das sind mehr als anderswo, jährlich regelmäßig mehr als hundert, der Anteil der Selbstmörder ist unter den Häftlingen siebenmal höher als in Freiheit.

Manche hängen sich auf mit dem Kabel des Fernsehgerätes, anderen gelingt es trotz Aufsicht, das Krankenpersonal zu täuschen und Tabletten zu horten. So wie dem jungen Laurent, der über Wochen Beruhigungstabletten aufsparte, bis er 110 auf einmal verschluckte.

Auch die Wärter erleben es als Niederlage, wenn sie einen Suizid nicht verhindern konnten. Dem Psychologen Jean-Louis Terra, der im Auftrag der Regierung die Situation untersucht hat, klagten sie ihre eigene Überforderung. Sie hätten für nichts anderes Zeit, als Zellen auf- und zuzuschließen. Was in der Zelle vor sich geht, das sehen sie meist nicht. Und doch fühlen sich die Eingeschlossenen permanent beobachtet, ausspioniert, kontrolliert, entmündigt.

Am Ende haben es die am besten, die am schwersten bestraft werden, zu sehr langen bis hin zu lebenslangen Strafen. Sie sind am liebsten in Caen, wo gut 300 der 420 Insassen wegen Sexualdelikten einsitzen. Die meisten haben sich an Kindern vergangen, manche sogar an den eigenen, und in jedem Knast trifft sie die allgemeine Verachtung. Hier aber sind sie unter sich.

Von morgens um sieben bis abends um acht sind die Zellen geöffnet. Man trifft sich; man hat Arbeit; man kann sich fortbilden; vier Psychiater, sechs Psychologen, sechs Krankenschwestern kümmern sich um kaputte Seelen.

Man ist auch als Bildungsbürger nicht ganz verloren, weil unter Gefangenen fünf ehemalige Lehrer und ein Ex-Schuldirektor, zwei Priester und ein paar Männer aus dem Gesundheitssektor sind. Homosexuelle Partnerschaften werden geduldet, wenn sie denn diskret gehandhabt werden.

Wer den großen Schock des Freiheitsentzugs einmal hinter sich gebracht hat, mag es dort wohl aushalten. Die Fenster sind zwar nicht zu öffnen, aber es gibt keine Gitter davor. Und da leistet sich mancher den Luxus, am Abend auf der Fensterbank sitzend und rauchend in die Landschaft zu schauen.

In der Santé in Paris kann man davon kaum träumen. Holger Pfahls, der in einem anderen Leben wusste, was wahrer Luxus ist, sehnt sich nun nach einem deutschen Knast.

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