Frankreich:51.000 Zellen für 63.000 Häftlinge

Die französischen Gefängnisse sind überfüllt - eine Serie von Selbstmorden alarmiert nun die Öffentlichkeit.

Gerd Kröncke, Paris

Die junge Frau mit ihrem charmant runden Bauch ist ein Bild der Mütterlichkeit, und doch macht sich Rachida Dati, 42 Jahre alt, hochschwanger und seit Sarkozys Wahlsieg umstrittene Justizministerin, jeden Tag neue Feinde. Sie hat wenig Fortune. Einst der Star im Sarko-Team, gerät ihr Ministerium zunehmend mit unglücklichen Schlagzeilen in die Nachrichten.

Gefängnis Paris; AFP

Gefängniszelle im Pariser Gefängnis La Santé

(Foto: Foto: AFP)

Eine Serie von Selbstmorden in französischen Gefängnissen trägt zur Unpopularität der jungen Ministerin bei. Keine Woche vergeht, ohne dass in einem Gefängnis ein Toter zu beklagen wäre. Es haben sich zwar immer schon Häftlinge umgebracht, aber die derzeitige Häufung ist ungewöhnlich. In diesem Jahr waren es bereits 90 Tote, ein gutes Viertel mehr als zur selben Zeit im vorigen Jahr.

Eigentlich ist der Öffentlichkeit der Zustand in den Gefängnissen egal, weil es die wenigsten betrifft. Die Ministerin ist eine Ausnahme, zwei ihrer Brüder haben wegen Drogengeschichten schon praktische Knast-Erfahrungen. Und es gibt Fälle, die beunruhigen, besonders wenn sich Jugendliche das Leben nehmen. So hatte sich in der ersten Oktoberwoche im Gefängnis von Metz ein Sechzehnjähriger mit seinem Bettlaken erhängt.

Der Junge hatte zuvor schon einige Suizidversuche unternommen, die möglicherweise nicht ernst genug genommen wurden. Er verbüßte eine sechsmonatige Strafe in der Abteilung für Minderjährige. Bei solcher Gelegenheit fragt man sich, ob Sechzehnjährige im Gefängnis richtig aufgehoben sind. Nicolas Sarkozy hatte schon früher darauf verwiesen, dass es für das Opfer keinen Unterschied mache, wie alt die Täter seien.

Das "Modell-Gefängnis"

Den Knast von Metz-Queuleu hatte Ministerin noch vor ein paar Wochen als "Modell-Gefängnis" gelobt. Der zuständige Staatsanwalt wurde von ihr zurechtgewiesen, weil er es versäumt hatte, sich den jungen Mann vor dem Strafantritt vorführen zu lassen, wie es Vorschrift ist. Damit hatte sie formal recht, doch empörten sich die Justiz-Gewerkschaften, sie suche einen Sündenbock.

Der Widerspruch ist offenkundig. Mal beklagt die Ministerin, dass die Richter Jugendliche zu schnell hinter Gitter bringen, was der mütterlichen Seite der Rachida Dati entspricht. Mal beauftragt sie eine Kommission, schärfere Maßnahmen, einschließlich Gefängnisstrafen, gegen jugendliche Straftäter vorzuschlagen - das ist die Politikerin.

Gewiss liegt sie richtig mit dem Vorschlag, Jugendliche bei Strafantritt psychologisch untersuchen zu lassen, um Selbstmordrisiken einzuschätzen, andererseits haben konservative Regierungen seit sechs Jahren das Alter der Strafmündigkeit weiter gesenkt. Schon mit dreizehn kann ein Jugendlicher in Untersuchungshaft genommen werden.

Der größte Risikofaktor sind die Haftbedingungen in französischen Gefängnissen. Unter Sarkozys Präsidentschaft ist die Zahl der Gefangenen stetig gestiegen. Aus Sicht der Gewerkschaft ist dies die wichtigste Ursache für den unwürdigen Zustand der Gefängnisse. Mehr als 63.000 Menschen sitzen derzeit ein, für die es aber nur rund 51.000 Haftplätze gibt.

Suche nach dem Sündenbock

"Eine alarmierende Situation," so die Gewerkschaften, zumal Geld und Personal an allen Ecken fehlen. Oft genug sind Selbstmordversuche der letzte Aufschrei. Im Gefängnis von Mulhouse wurde ein junger Mann von 25 Jahren Ende voriger Woche nach einer Überdosis von Medikamenten gerade noch gerettet. In der schwarzen Serie war das bereits der vierte Versuch in einer Woche im selben Gefängnis. Und oft kommt jede Hilfe zu spät.

Der Mann, der vorigen Freitag in seiner Zelle in Straßburg tot aufgefunden wurde, saß wegen Urkundenfälschung, es war kein Gewalttäter. Zudem war er stark suizidgefährdet und hätte, da waren sich hinterher alle einig, die ungeschützt ihre Meinung sagen können, "von Amts wegen" in ärztliche Behandlung und nicht eingesperrt gehört. Experten schätzen, dass der größere Teil aller Häftlinge psychische Probleme hat, die sich hinter Gittern noch verschärfen.

Für manche ist es geradezu eine Folter, wenn sie weggesperrt werden. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vorige Woche den französischen Staat heftig kritisiert: Im Fall eines psychisch kranken Gefangenen, der sich im Jahr 2000 umbrachte, hat Frankreich nach Ansicht des Straßburger Gerichts gegen das Folterverbot der Menschenrechtskonvention verstoßen. Menschenunwürdig seien die Haftbedingungen für den Kranken gewesen.

Neben Island und Luxemburg sterben, auf die Gesamtbelegung bezogen, nirgendwo in Europa so viele Menschen im Knast wie in Frankreich. "Wie viele Verurteilungen braucht es noch," fragt der sozialistische Abgeordnete Jean-Jacques Urvoas, "bevor die Autoritäten sich klar machen, dass Freiheitsentzug nicht das Recht auf Leben beeinträchtigen darf."

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