Frankreich nach dem Terror:"Aus Angst zu Hause bleiben ist keine Option"

Tributes And Reaction To Paris Terror Attacks After Gunmen Kill 17 People

In der Nähe des Büros des Satiremagazins "Charlie Hebdo" legen Menschen Blumen nieder und trauern um die Opfer.

(Foto: Getty Images)
  • Nach dem Ende der Geiselnahmen beherrscht eine Mischung aus Erleichterung, Trauer und Angst vor neuen Anschlägen die Stimmung in Paris.
  • Die Mehrheit beschwört vor dem großen Trauermarsch am Sonntag den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
  • Doch langsam werden Stimmen lauter, die die uneingeschränkte Solidarität mit den getöteten Karikaturisten des Satiremagazins Charlie Hebdo nicht teilen.

Reportage von Felicitas Kock, Paris

Die Bilder sind noch nicht vergessen: Als im April 2013 die Attentäter des Boston-Marathons von der Polizei überwältigt wurden, gingen in den USA Tausende Menschen auf die Straße und feierten. Unmittelbar nachdem der ältere der Zarnajew-Brüder tot und der jüngere in Polizeigewahrsam war, brach der Jubel los. Die Leute sammelten sich auf den Straßen, schwenkten die US-Flagge. Auch nach der Tötung von Osama bin Laden 2011 feierten Amerikaner vor dem Weißen Haus und anderswo mit lauten "USA USA"-Rufen.

In Frankreich ist das anders. Zum Feiern ist hier niemandem zumute. Nicht, als am Freitagabend die Nachricht vom Tod der drei Attentäter die Runde macht. Und auch nicht am Samstag, als Paris zum ersten Mal seit drei schrecklichen Tagen wieder richtig durchatmen kann.

"Natürlich sind wir erleichtert", sagt Anthony Temmerman. Der 32-jährige Franzose ist mit seiner Freundin in die Allée Verte im 11. Arrondissement gekommen - eine schmucklose Nebenstraße der Rue Nicolas Appert, in der sich am Mittwoch der Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ereignet hatte.

An einem Absperrgitter - die nähere Umgebung des Redaktionsgebäudes ist weiterhin abgeriegelt - haben die Menschen hier Blumen niedergelegt. Sträuße, Kränze, daneben ein paar Kerzen und unzählige Bleistifte, Buntstifte, Kugelschreiber - Zeichen der Solidarität für die getöteten Karikaturisten.

Trauer ist weiterhin spürbar

Im Großteil der Stadt scheint das Leben normal weiterzugehen. Es ist frühlingshaft warm, die Straßencafés sind gut besucht, am Boulevard Haussmann schieben sich die shoppenden Massen von Laden zu Laden und unter dem Eiffelturm warten die Touristen auf den Aufzug zur Aussichtsplattform.

An der Straßensperre in der Allée Verte aber ist die Trauer über den Anschlag deutlich spürbar. Die Leute, die sich hier einfinden, betrauern die Toten und das Gefühl, in ihren Grundwerten angegriffen worden zu sein. Immer wieder kommen Menschen vorbei, legen Blumensträuße nieder, lesen die Plakate an den Hauswänden, auf denen andere ihre guten Wünsche geschrieben haben. "Je suis Charlie" steht dort neben "Niemand wird Frankreich in die Knie zwingen" und "Wir werden immer frei bleiben".

Er sei stolz, sagt Temmerman, dass die Franzosen in dieser schweren Zeit so zusammenhalten. Auch die Solidarität des Auslands bewege ihn sehr. Angst habe er keine, obwohl der Verbleib einer mutmaßliche Komplizin der Attentäter, Hayat Boumeddiene, noch nicht abschließend geklärt sei. Womöglich hält sie sich in Syrien auf.

Temmermans Lebensgefährtin fällt ihm ins Wort: "Ich glaube, gerade jetzt ist es am gefährlichsten. Die Menschen wiegen sich in Sicherheit, weil die drei Terroristen tot sind. Aber mögliche Unterstützer laufen frei herum und für Paris gilt noch immer die höchste Terrorwarnstufe."

Viele haben Sorge vor weiteren Anschlägen

Marie Pourrech, deren Café zwei Straßen von der Charlie-Hebdo-Redaktion entfernt liegt, fühlt ähnlich. Sie sei erleichtert, dass die Attentäter, die Brüder Chérif und Said Kouachi und Amedy Coulibaly, keinen Schaden mehr anrichten könnten. Gleichzeitig könne sie das Gefühl nicht abschütteln, dass noch etwas passieren wird. "Vielleicht war das erst der Anfang", sagt die 43-Jährige. Dennoch wird sie am Sonntag mit ihrer Familie am großen Trauermarsch teilnehmen: "Jeder muss hingehen, aus Angst zu Hause bleiben ist keine Option."

Die Kundgebung, an der auch ausländische Spitzenpolitiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel teilnehmen werden, wird von tausenden Polizisten und Soldaten gesichert werden.

Bewaffnete Polizisten bewachen auch eine kleinere Gedenkveranstaltung, die am Samstagabend in St. Mandé stattfindet. Dort, in der Gemeinde am östlichen Rand von Paris, hatte einer der Attentäter in einem koscheren Supermarkt vier Menschen erschossen und 16 Geiseln genommen, bevor die Polizei ihn tötete.

Das Geschäft liegt neben einer Tankstelle an einer viel befahrenen Kreuzung am Boulevard Periphérique, der Ringautobahn von Paris. Auf der Kreuzung stauen sich jetzt die Autos, weil eine Spur nach der Geiselnahme noch immer gesperrt ist. Alle hupen.

Weniger Blumen und Trauernde vor koscherem Supermarkt

Dass sich Amedy Coulibaly gerade dieses Geschäft für seine Geiselnahme ausgesucht hat, lässt die Angst noch wachsen. Es ist kein öffentliches Gebäude, keine S-Bahn, keine Schule, keine Zeitungsredaktion, kein Ort, an dem sich besonders viele Menschen treffen. Wenn ein Attentäter genau hier zuschlägt, so der Gedanke, dann gibt es nirgends mehr Sicherheit.

Auch an der Zahl der Blumensträuße merkt man, dass der jüdische Lebensmittelladen weiter am Stadtrand liegt als die Redaktion von Charlie Hebdo. Weniger Menschen finden ihren Weg hierher, hauptsächlich Leute aus der Gegend kommen und legen Blumen nieder. "Die Solidarität ist groß", hört man auch hier von allen Seiten. Man halte zusammen. Christen, Juden, Muslime, es seien doch alle doch gleich.

Doch langsam mischen sich in diese positive Grundhaltung auch andere Stimmen. Der Hashtag #JeNeSuisPasCharlie - Ich bin nicht Charlie - wird in sozialen Netzwerken von vielen genutzt, die nicht mit der allgemeinen Solidarität für die getöteten Karikaturisten einverstanden sind.

Die Zeitung Le Monde berichtet von mehreren Schulen in Saint-Denis, einem Vorort im Norden von Paris, an denen sich muslimische Schüler zwar von den Anschlägen distanzieren, aber gleichzeitig Kritik an den Karikaturen der Charlie-Hebdo-Zeichner äußern. Die Anschläge seien nicht in Ordnung gewesen, so der Tenor, die Beleidigung des Islam durch satirische Zeichnungen aber auch nicht.

Auch diese Stimmen gibt es in Paris. Sie gehören einer Minderheit, sie sind noch recht leise, doch ignorieren wird man sie nicht können.

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