Frankreich:Dunkles Familiengeheimnis

Frankreich: 1984 wurde die Leiche des vierjährigen Grégory Villemin gefunden.

1984 wurde die Leiche des vierjährigen Grégory Villemin gefunden.

(Foto: AFP)

Im mehr als 30 Jahre zurückliegenden Mordfall Grégory belasten sich Verwandte gegenseitig. Einer will reden, eine andere nicht. Was haben sie mit dem Tod des Vierjährigen zu tun?

Von Joseph Hanimann, Paris

Er ist einer der rätselhaftesten Kriminalfälle Frankreichs, der Mord am vierjährigen Grégory Villemin im Herbst 1984. In diesem Sommer kommt er nicht aus den Schlagzeilen. Mehr als drei Jahrzehnte, nachdem der Junge tot im Bachlauf seines Wohnorts in den Vogesen geborgen worden ist, wurden im Juni sein Großonkel und seine Großtante sowie eine weitere Verwandte verhaftet. Gegen sie wird nun ermittelt wegen Entführung und Freiheitsberaubung mit tödlichem Ausgang.

Jene Verwandte, Murielle Bolle, die zur Zeit des Mordes 15 Jahre alt war, ist am Freitag wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Sie bleibt allerdings unter Gerichtskontrolle, darf bis auf Weiteres nicht mehr an ihren Wohnort zurückkehren und auch keinen Kontakt mit ihren Angehörigen pflegen. Das Verfahren gegen sie läuft weiter. Die psychisch gezeichnete, wortkarge und verschlossene Frau spiegelt das ganze finstere Geheimnis der jahrzehntelangen Affäre.

Nach 33 Jahren wolle er endlich sprechen, sagt der Cousin den Ermittlern

Der Polizei hatte das Mädchen direkt nach Entdeckung der Mordtat erklärt, sie habe an jenem 16. Oktober 1984, an dem Grégory verschwand, nach der Schule auf dem Weg nach Hause im Auto ihres Schwagers Bernard Laroche gesessen, als dieser den Jungen zu Hause abgeholt und an einem anderen Ort abgeliefert hätte. Nachdem sie aber nach Hause zu ihrer Familie zurückgekehrt war, widerrief sie die Aussage jedoch plötzlich und behauptete fortan, sie sei wie üblich mit dem Bus aus der Schule heimgefahren. Bernard Laroche galt dennoch weiter als Hauptverdächtiger. Grégorys Vater war von dessen Schuld überzeugt und erschoss ihn im März 1985.

Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Grégorys Mutter geriet unterdessen selbst in Verdacht, den Sohn getötet zu haben, weil Grafologen die Handschrift anonymer Drohbriefe an die Familie fälschlich als die ihre ausgemacht hatten. Sie saß in Haft, bis sie 1993 entlastet wurde. Der Staat wurde elf Jahre später zu Schadenersatzzahlung an Grégorys Eltern verurteilt, wegen nachlässiger und irreführender Ermittlung.

Das nie abgeschlossene Verfahren wurde in den vergangenen Jahren mehrmals ergebnislos aufgerollt, die Schlagzeilen und das Entsetzen darüber nehmen kein Ende, immer wieder nimmt der alte Fall brisante Wendungen.

Murielle Bolle war Jahrzehnte nach der Tat in den Fokus der Ermittlungen gerückt, weil ihr sechs Jahre älterer Cousin im Juni spontan bei der Polizei aufgetaucht war. Er wolle ein 33 Jahre lang gehütetes Geheimnis loswerden, sagte er. Er sei Zeuge gewesen, wie Murielle Bolle nach ihrer Aussage über die Autofahrt mit Bernard Laroche von der Familie beschimpft und geohrfeigt worden sei, weil sie den Verwandten verraten habe. Ihm selbst, sagte er der Polizei, habe das Mädchen anvertraut, die ursprüngliche Aussage sei die richtige gewesen, Murielle Bolle habe die Entführung Grégorys durch Laroche miterlebt.

Bei der Gegenüberstellung bleibt die Cousine einsilbig und wortkarg

Ende vergangener Woche gab es eine Gegenüberstellung der beiden, die sich seit den Ereignissen nicht mehr begegnet sind. Die großen Hoffnungen der Ermittler aber wurden enttäuscht: Murielle Bolle gab einsilbige Antworten und blieb bei ihrer Behauptung von der Busfahrt. Die Ermittlungskammer des Gerichts in Dijon entschied also, die 48-Jährige aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Das Ermittlungsverfahren läuft weiter. Die Eltern von Grégory Villemin, die heute zurückgezogen bei Paris leben, lassen über ihren Anwalt ausrichten, sie hätten gegen die Entlassung nichts einzuwenden. Sie wollen mit der Vergangenheit offenbar nichts mehr zu tun haben. Und werden doch immerzu mit Schlagzeilen konfrontiert.

Vor einem Monat, als sich der einst mit dem Fall befasste Richter das Leben nahm etwa. Er stand 1984 am Anfang seiner Karriere und galt als von der Sachlage sowie vom Druck der Medien überfordert. Er versteifte sich schnell auf die Überzeugung von der Schuldigkeit der Mutter, die Ermittlung führte er entsprechend voreingenommen und unsorgfältig. Nach seiner Versetzung 1988 publizierte er mehrere Bücher über den Fall.

Seit 2014 war er im Ruhestand und am 11. Juli wurde er tot in seinem Privatbüro aufgefunden. Sein letzter Roman wird im kommenden Herbst erscheinen. Er soll von einem Mann handeln, der sich umbringt, um seine Ehre zu retten, genau so, wie man den Autor selbst vorfand. Angehörige mutmaßen, dass der Richter sich einem neuen Aufrollen des Falls nicht gewachsen fühlte.

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