Flug MH17:Durch Zufall der Katastrophe entgangen

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Eigentlich hätte ein schottisches Ehepaar mit seinem Baby an Bord des Fluges MH17 sein sollen. Doch kurz vor dem Abflug erfuhren sie, dass es nicht genug Plätze gab.

Von Violetta Simon

Darf man sich freuen, wenn man einer Katastrophe entgangen ist, bei der andere Menschen ums Leben kamen? Barry Sim und seine Frau Izzy dürften sich am Mittwoch erst einmal furchtbar geärgert haben. Das Ehepaar aus Schottland wollte mit Malaysia Airlines von Amsterdam nach Kuala Lumpur fliegen und hatte eigentlich den Flug MH17 gebucht.

Wie der britische Telegraph berichtet, wurde den Sims jedoch kurz vor dem Start mitgeteilt, dass es für sie und ihr Baby nicht genügend Plätze in der Maschine gebe. Das Paar musste spontan auf einen späteren Flug der niederländischen Linie KLM umbuchen. Die Zeitung hat ein Video-Interview mit dem Paar auf ihrer Webseite veröffentlicht:

Kurz vor ihrer Abreise erfuhren die Sims von der Katastrophe: Die Boeing 777, in der sie und ihr Kind hätten sitzen sollen, ist aus einer Höhe von zehn Kilometern in der Ostukraine abgestürzt. Fast 300 Menschen kamen ums Leben, darunter 80 Kinder (einen ausführlichen Bericht dazu lesen Sie hier).

"Flaues Gefühl im Magen"

"Man bekommt so ein flaues Gefühl im Magen", beschreibt Barry Sim im Gespräch mit dem irischen Independent seine Gefühle, als sie von dem Unglück erfuhren. "Wir hatten plötzlich Schmetterlinge im Bauch, dann fing das Herz wieder an zu schlagen." Offenbar müsse es da irgendjemanden geben, der über sie wacht und gesagt habe: "Ihr dürft diesen Flug nicht nehmen."

"Als wir am Flughafen ankamen, weinte ich einfach nur", sagte seine Frau Izzy dem Nachrichtenportal News.com. Sie habe sich gefühlt, als hätte sie eine zweite Chance bekommen. Dem Telegraph sagte sie : "Wir waren bisher stets treue Kunden der Malaysia Airlines und wollten immer mit dieser Fluglinie fliegen". Ihr Ehemann habe es normalerweise abgelehnt, mit KLM zu fliegen. Nun seien sie äußerst glücklich, nicht in der Unglücksmaschine gewesen zu sein.

Überlebensschuld statt Glück

"Natürlich empfindet man zunächst ein großes Glück in so einer Situation", erklärt der Psychologe Georg Pieper. Das Gefühl sei aber wohl eher als tiefe Dankbarkeit zu beschreiben. Mit der Zeit könnten jedoch auch andere Gefühle entstehen - etwa Zweifel oder schlechtes Gewissen. "Es ist nun mal schwer, sich zu freuen, wenn man eine Katastrophe überlebt hat, bei der so viele andere den Tod gefunden haben", sagt Pieper, der eine Praxis für Trauma- und Stressbewältigung in Hessen leitet.

Man kenne solche Gefühle von anderen Katastrophen. Als Beispiel führt der Therapeut das große Grubenunglück im Braunkohlebergwerk von Borken-Stolzenbach an, bei dem 1988 bei einer Explosion 51 Menschen ums Leben kamen. "Mehrere Kumpels hatten kurz zuvor ihre Schicht gewechselt und waren so durch reinen Zufall dem Tod entkommen." Für die Überlebenden war es in diesem Fall besonders schwer, weil dabei Menschen umkamen, die sie kannten. "Da entstehen Schuldgefühle, die Überlebenden fragen sich, warum gerade sie es verdient haben sollen, verschont zu werden", sagt der Psychologe. Aus so einer "Überlebensschuld" könnten schwere Identitätskrisen entstehen.

Wege aus der Krise

Glück im Unglück - wie Familie Sims mit ihrer Erfahrung umgeht, muss sich erst noch zeigen. Wie man aus dem Video von heute Morgen erfährt, wollte sich das Ehepaar noch einigen, ob sie die KLM-Maschine nach Kuala Lumpur überhaupt besteigen sollten. Wenn es nach ihm ginge, sagte Barry, würden sie trotzdem fliegen: "Meiner Meinung nach schlägt der Blitz niemals zweimal in dieselbe Stelle ein." Allerdings sei seine Frau Izzy dagegen. "Das Letzte, das sie jetzt wahrscheinlich tun möchte, ist fliegen, vor allem nach Kuala Lumpur", vermutete der Schotte.

Die eigentliche Herausforderung - die Verarbeitung dieser Erfahrung - wartet noch auf das Paar. Eine häufige Erkenntnis in solchen Situationen: die Zerbrechlichkeit der eigenen Existenz. "Möglicherweise wird einem klar, wie oft man sich über Kleinigkeiten ärgert und sich mit unnötigen Dingen beschäftigt", sagt Trauma-Experte Pieper. So ein persönliches "Wachstum" helfe Betroffenen dabei, aus der Krise herauszukommen.

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