Flüchtlingslager in Berlin:Massenquartier mit ungeklärtem Status

Gedenken an erstochenen Flüchtling

Gedenken vor der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin: In diesem Flüchtlingslager wurde der 29-jährige Anwar erstochen.

(Foto: Hannibal Hanschke/dpa)

Hunderte Flüchtlinge haben in Kreuzberg eine ehemalige Schule besetzt. Dort leben sie unter widrigsten Bedingungen, mehr oder weniger sich selbst überlassen. Doch selbst nach einem tödlichen Streit wollen die meisten das Gebäude nicht verlassen.

Von Verena Mayer, Berlin

Ein Mann ist tot. Er starb am vergangenen Freitag, als er duschen wollte, durch mehrere Messerstiche in den Bauch. Er hieß Anwar und wurde 29 Jahre alt. Anwar war aus Marokko und ist an dem Ort verblutet, an dem er eigentlich Zuflucht gesucht hatte, in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin. Er wurde getötet von einem Mann, der ebenfalls hier untergekommen war. 40 Jahre alt, aus Gambia.

Der Tatort, eine Woche später. Ein grauer Zweckbau in Kreuzberg. Davor ein Hof mit Bäumen und Bänken, ein Basketballplatz. Hier war früher die Gerhart-Hauptmann-Oberschule. Dann stand das Gebäude leer, und irgendwann kamen rund 200 Leute darin unter. Flüchtlinge, die im Herbst 2012 von Würzburg aus einen Protestmarsch nach Berlin unternommen hatten. Ein Teil errichtete ein Camp auf dem Oranienplatz, das vor drei Wochen geräumt wurde. Ein Teil besetzte die Schule.

Der Bezirk ließ dies zu, kam für Wasser und Strom auf. Was als provisorische Unterkunft gedacht war, wurde im Lauf der Zeit zum Massenquartier. Für Flüchtlinge aus Afrika, Roma-Familien aus Bulgarien, Rumänien und Spanien, für Obdachlose. Einige hundert Leute, auf Fluren, im Hof, in früheren Klassenzimmern. Eingerichtet mit dem, was sie auf der Straße fanden oder ihnen von Helfern gebracht wurde. Mit kaum Infrastruktur - und einer einzigen Dusche für alle.

Einigkeit nur darin, dass es so nicht weitergehen kann

Auf den Schulfluren stehen dicht an dicht Fahrräder. Über ein Schwarzes Brett aus Schulzeiten hat jemand "Das Leben ist ein Lernprozess" geschrieben. Die Wände sind mit Graffiti besprüht und mit Zetteln beklebt. Vom gemeinnützigen Verein Joliba etwa, der hier Sozialberatung anbietet, am Tattag waren noch Mitarbeiter in der Schule, um eine Tafel für einen Deutschkurs aufzustellen. Auch ein Aufruf des Bezirks klebt hier, auf Deutsch und auf Englisch. Nach den Gewaltvorfällen sei man "gezwungen, eine Reihe von Veränderungen herbeizuführen", steht darauf. Der Bezirk will ein internationales Flüchtlingszentrum einrichten, mit 70 Plätzen für "Flüchtlinge mit ungeklärtem Status".

Der Berliner Senat will die Schule indes erst einmal leer haben, so wie den Oranienplatz. Manche Bewohner wollen sich mit dem Senat einigen und woanders unterbringen lassen. Andere wollen bleiben. Einig sind sich alle Beteiligten lediglich darin, dass es so nicht weitergehen kann.

Durch das Treppenhaus gehen Männer zu einem Raum, über den jemand "W.C." gesprüht hat. Sie tragen Plastikeimer, in denen vorher Gurken, Quark oder Marmelade waren. Die Eimer sind die Waschgelegenheit. Die einzige Dusche befindet sich in einem Flachbau neben dem Sportplatz. Tische und ein paar alte Schulstühle stehen davor. Zwei kleine Kinder schieben einen Hund in einem Einkaufswagen vorbei. Ein Mann sitzt im Rollstuhl, ein anderer humpelt, sein Bein ist kaputt von einer Kriegsverletzung aus Libyen, die nicht behandelt wurde. Anwar, den getöteten Marokkaner, kannten viele. Wovon sie leben? Die Männer zucken mit den Schultern. Spenden, Freunde "aus der Community", viele sammeln Flaschen.

Nebenan wird veganer Latte Macchiato bestellt

Auf einem kopierten Zettel ist ein Foto von Anwar zu sehen. Es zeigt einen jungen Mann mit Bürstenhaarschnitt und einem T-Shirt, auf dem "Berlin" steht. Er lacht und reckt den Daumen hoch. Er sieht aus, als sei er irgendwo angekommen. Am Freitag vergangener Woche gab es Streit zwischen ihm und dem Mann aus Gambia, wer zuerst duschen darf. Immer wieder war es zu Gewalt an der Schule gekommen, musste die Polizei einschreiten. Auch Drogen wurden an der Schule gefunden. Am Ende lag Anwar in seinem Blut. Der Täter wurde verhaftet, als er versuchte zu fliehen. Das blutige Messer hatte er bei sich.

Gedenken an erstochenen Flüchtling

Paketband sperrt im Flüchtlingsquartier in der Gerhart-Hauptmann-Schule den Duschraum ab, in dem Anwar niedergestochen wurde.

(Foto: Hannibal Hanschke/dpa)

Seither sind die Zustände in Kreuzberg wieder einmal Thema in Berlin. Von einem "makabren Flüchtlingsghetto" sprechen die einen, wie der Historiker Götz Aly in der Berliner Zeitung. Aly wirft dem verantwortlichen Bezirk Mangel an Realismus vor, spricht von "Chronik eines angekündigten Todes".

Für andere ist die Schule eine von vielen Stationen einer Irrfahrt durch halb Europa. Für den jungen Mann etwa, der sich nur Blal nennen möchte. Er dürfte eigentlich gar nicht in Berlin sein, da sein Asylverfahren in Italien läuft. Blal spricht Italienisch, er hat acht Jahre in Italien gelebt. Blal kommt aus dem Sudan, hatte sich nach Libyen durchgeschlagen und danach mit dem Schiff nach Lampedusa.

"Cose brutte" habe Blal erlebt, hässliche Dinge

Blal spreizt die Beine, um zu zeigen, wie sie im Boot saßen, 450 Leute so dicht hintereinander, dass jeder seinen Vordermann zwischen die Beine nehmen musste. Er sei dann mal hier, mal dort gewesen, sagt er, habe schwarz in Mozzarella-Fabriken gejobbt. Als die Krise Italien erreichte, seien die Schwarzarbeiter rausgeflogen, sagt Blal. Er ging in die Schweiz, nach Deutschland, landete in Berlin. Warum er aus dem Sudan geflohen ist, will er nicht sagen. Nur, dass er "cose brutte" erlebt habe, hässliche Dinge. Und vor allem eines im Leben wolle: Papiere. Er sagt das auf Deutsch, "Papier" ist das Wort, das alle an der Schule auf Deutsch können.

Am Zaun der Schule hängen Inserate, die für Babymassage, Yoga- und Pilates-Kurse werben. Schräg gegenüber ist ein Laden für sehr teure Kinderschuhe, und im Café daneben fragt eine Frau, ob sie ihren Latte Macchiato vegan haben könne. Die Probleme der einzelnen Welten liegen sehr nahe beisammen in Kreuzberg.

Anwars mutmaßlicher Mörder wirkte psychisch krank

Drei junge Frauen sitzen am Schulzaun. Sie sprechen eine Mischung aus Französisch und Spanisch, es sind Roma aus Rumänien. Eine Frau hat ein krankes Kind auf dem Arm, "eine Infektion", sagt sie. Wie 50 andere Roma leben sie in der Schule, einige haben davor im Park geschlafen. Um Geld zu verdienen, putzen sie an einer Straßenkreuzung Autoscheiben. Bezirk und Jugendamt wollen die Familien nun woanders unterbringen, die Roma sind noch die einfacheren Fälle, da sie zumindest Papiere haben.

Drinnen in der Schule öffnet eine Frau die Tür, sie stellt sich als Mimi vor. An den Wänden hängen Kleidungsstücke, auf dem Boden steht der obligate Plastikeimer zum Waschen. Mimi ist eine zarte Person, 36 Jahre alt, seit 17 Jahren in Deutschland. Sie kommt aus Kenia, hat bei einer Pflegefamilie in Ostdeutschland gelebt, eine Zeit lang war sie mit einem Deutschen verheiratet. Sie ging nach Kreuzberg, arbeitete als Altenpflegerin und als DJ. Eines Tages flog sie aus ihrer Wohnung raus und zog in die Schule.

Mimi erzählt von Leuten, die ohne Papiere aus Syrien kamen, von Messerstechereien

Und hier wolle sie bleiben, sagt sie, "ein normales, anständiges Leben führen, wie 98 Prozent der Leute hier". Den Mann, der Anwar erstach, habe sie gekannt. Er habe immer auf einem roten Stuhl gesessen, habe gewirkt, als sei er psychisch krank. Mimi redet schnell, dazwischen springt sie auf und läuft in dem Zimmer hin und her, sie hat etwas von einem Vogel in einem Käfig.

Mimi erzählt von Messerstechereien an der Schule und von Leuten, die ohne Papiere aus Syrien gekommen sind und tagelang nicht schlafen. In einem Regal stehen ein Fernseher und Bücher, eines hat den Titel "Ihr gutes Recht". Mimi ist eine Art Anlaufstelle, weil sie sich in Berlin auskennt und Deutsch spricht. Auf eine seltsame Art ist die Schule ihre Heimat geworden.

Ein junger Mann sitzt auf dem Sofa, einer der Aktivisten, die lose mit dem Flüchtlingsprotest verbunden sind. Die beiden finden die Vorschläge, die Stadt und Bezirk machen, unzureichend, sie fordern, dass die Flüchtlinge selber entscheiden dürfen, wo sie bleiben wollen. Und dass es weitere Verhandlungen mit dem Senat gibt. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hat indes Forderungen der Flüchtlinge etwa nach weiteren Duschen abgelehnt, da bauliche Veränderungen keinen Sinn machten. Die Grundthese laute, dass die Schule freiwillig geräumt werde solle.

Bis es so weit ist, werden wohl weiterhin Hunderte Menschen in einem besetzten Haus in Berlin-Kreuzberg mehr oder weniger sich selbst überlassen sein. Einer von ihnen hat das nicht überlebt.

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