Flüchtlingselend im Mittelmeer:Wie das Boatpeople-Business immer brutaler wird

Frachter mit Hunderten Flüchtlingen im Hafen von Gallipoli

Im italienischen Hafen Gallipoli strandeten Hunderte Flüchtlinge, die auf der Blue Sky in Seenot geraten waren. Es ist nicht das einzige Schiff, dass in diesen Tagen von Menschenschleppern benutzt wurde.

(Foto: AFP)
  • Innerhalb weniger Tage sind im Mittelmeer drei Schiffe mit Flüchtlingen in Seenot geraten.
  • Die Schleppen setzen zunehmend auf große Frachtschiffe, weil ihnen das mehr Einnahmen sichert.
  • Die europäische Grenzagentur Frontex spricht von einem neuen "Grad der Grausamkeit".

Von Andrea Bachstein

Auch die Verzweifelten auf der Ezadeen haben am Ende Glück gehabt. Statt in eine drohende Katastrophe sind sie in rettende Hände geraten: Um 0.55 Uhr in der Nacht zum Dienstag kam die Meldung: "Die Küstenwache übernimmt das Kommando des Frachters mit 450 Migranten und steuert es Richtung Hafen Corigliano Calabro." Ein Flugzeug der Kapitanerie des kalabrischen Hafens hatte das Schiff gesichtet, per Hubschrauber gelangten die Italiener auf die Ezadeen, ein isländisches Schiff aus dem Frontex-Kommando der Operation "Triton" nahm sie ins Schlepptau.

Die Ezadeen scheint eines jener Schiffe zu sein, die nach Ende ihrer besten Zeit irgendwo im verwirrenden weltweiten Geflecht der Seefahrt unter einer billigen Flagge niedrige und gelegentlich auch illegale Dienste leisten, solange das Wasser sie irgendwie noch trägt. Der fast 50 Jahre alte Frachter läuft unter der Flagge Sierra Leones und soll einer libanesischen Firma gehören. Wie es heißt, diente er zuletzt dem Transport von Vieh.

Man kann davon ausgehen, dass Tiere auf ihr sorgsamer transportiert wurden. Die 450 Flüchtlinge - viele Frauen, auch schwangere, und Kinder unter ihnen - sind von den Schleppern dem in diesen Tagen wütenden Mittelmeer überlassen worden. Die Mannschaft hatte den Autopiloten Richtung Italien eingestellt und ging von Bord. 80 Seemeilen östlich von Crotone war der Treibstoff zu Ende, die Motoren standen still, es gab keinen Strom, und die 70 Meter lange Ezadeen trieb in den Wellen. Einem der Flüchtlinge gelang es schließlich, einen Funkspruch abzusetzen.

Die sonst nicht für Gefühlsausbrüche bekannte europäische Grenzagentur Frontex spricht am Dienstag von einem "neuen Grad an Grausamkeit" seitens der Schlepper. Aber neu ist das keineswegs, dass Flüchtlinge ohne Seeleute ausgesetzt werden, noch dazu ist das sehr oft mit seeuntüchtigen Booten passiert.

"Sie wären mit Sicherheit vor Apulien auf Klippen gelaufen"

Nur drei Tage zuvor hatten Italiens Marine und Küstenwache in einem Noteinsatz einen anderen Frachter bestiegen und in den sicheren Hafen von Gallipoli in Apulien gelenkt. 768 Menschen, fast alle Syrer, hatte der unter moldawischer Flagge fahrende Frachter Blue Sky M an Bord, als auch sie, im Kanal von Otranto, von der Mannschaft im Stich gelassen wurden. Diese hinterließ nur den automatisch eingestellten Kurs, zu dem später der Sprecher der Küstenwache sagte: "Sie wären mit Sicherheit vor Apulien auf Klippen gelaufen."

Ein ähnlicher Fall ereignete sich am 22. Dezember. Da brachte die italienische Küstenwache den Frachter Carolyn Assense in den sizilianischen Hafen Augusta. 850 Menschen waren diesmal an Bord, aber keine Schiffsführer; so jedenfalls wurde das Schiff 100 Seemeilen vor der Küste gefunden. Auch hier sollte der Autopilot das Ziel finden. Und wiederum zwei Tage zuvor wurden 194 Flüchtlinge von einem sinkenden türkischen Frachter gerettet, 130 Seemeilen vor der Küste Italiens.

Gegenüber früheren Jahren ist nicht nur anders, dass die diversen Fluchten übers Meer auch in der gefährlichen Schlechtwetterperiode weitergehen. Die führerlosen, relativ großen Geisterschiffe der letzten Wochen legen nahe, dass sich etwas im Kalkül der Schlepper geändert hat: "Das ist eine neue Erscheinung dieses Winters", erklärte jedenfalls eine Frontex-Sprecherin in Warschau.

Schlauchboote mit lächerlich dünnen Plastikhäuten

Vor allem haben sich die Schiffe geändert. Auf Lampedusa und in anderen sizilianischen Häfen stapelten sich bis zum letzten Jahr requirierte, bunt bemalte, aber überhaupt nicht für hohe See taugliche hölzerne Fischerboote aus Nordafrika, die Flüchtlinge nach Italien brachten. Irgendwann scheinen diese Kähne ausgegangen zu sein. Im vergangenen Jahr zog Italiens Marine bei der Operation "Mare Nostrum" jedenfalls die Boatpeople immer öfter aus Schlauchbooten, die teilweise nur lächerlich dünne Plastikhäute hatten, wie der Marineoberbefehlshaber Admiral Luigi Binelli Mantelli 2013 schilderte. Kaum ein paar Stunden könnten sie dem Seegang standhalten. Die Schlepper überließen den Leuten, die sie auf potenzielle Todesfahrten schickten, lediglich ein Satellitentelefon, in dem die Notrufnummer programmiert ist. Offenkundig damit rechnend, dass ein "Mare Nostrum"- Schiff herbeieilen würde.

Nun also Frachtschiffe, die deutlich teurer sind - für alle Beteiligten. Doch vor allem der Syrien-Krieg hat die Nachfrage und das Handwerk der Schlepper endgültig zum "Multimillionen-Geschäft" gemacht, wie es Frontex nennt.

Das Boatpeople-Business ist attraktiv. Ein Syrer, der es mit Hilfe der Carolyn Assense bis nach Augusta schaffte, berichtete in Sizilien Journalisten, dass man ihnen rund 7000 Dollar abgeknöpft habe. Das ist eine Menge Geld für Menschen, die der Barbarei des syrischen Kriegs entkommen wollen. Begründet worden sei der im Vergleich zu den üblichen Schleppertarifen doppelt so hohe Preis mit dem besseren Transportmittel, erzählte der Syrer. Anders als ein Schlauchboot biete ein Frachter Sicherheit. Die vier Männer der Crew hätten die Carolyn Assense 120 Seemeilen vor der Küste verlassen. Anschließend seien sie in einer großen Motoryacht davongefahren.

170 000 Migranten gelangten 2013 über das Mittelmeer nach Italien

Nicht nur Bootsklassen, auch die Fluchtrouten haben sich verändert. Libyen, praktisch ohne staatliche Ordnung, ist noch immer wichtigster Ausgangspunkt, vor allem für Schwarzafrikaner. Aber der Exodus aus Syrien hat andere Häfen bekannt gemacht - Häfen in Syrien selbst, in Griechenland, auf Zypern und in der Türkei. Die in der Nacht zum Dienstag gerettete Ezadeen war, soweit bekannt, in einem türkischen Hafen aufgebrochen, hatte einen Zwischenstopp eingelegt im syrischen Tartus und in Famagusta auf Zypern, ehe sie Kurs auf Italien nahm. Zu dieser Fluchtroute passt auch der Weg der Norman Atlantic, der in Brand geratenen Autofähre, die zwischen Patras und Ancona unterwegs war und, wie sich herausstellte, offenbar auch Dutzende Flüchtlinge an Bord hatte.

170 000 Migranten gelangten 2013 über das Mittelmeer nach Italien. Rührende Einzelschicksale kommen immer wieder bei diesen tragischen Geschichten an die Öffentlichkeit. So erblickte Italiens "Weihnachtsbaby" auf einem Schiff der Marina Militare am 24. Dezember das Licht der Welt; seine Mutter, eine Nigerianerin, war von einem in Libyen gestarteten Schiff gerettet worden.

Alles andere als rührend sind diejenigen, die das große Geschäft machen mit jenen, die nur noch in einer Flucht einen Ausweg sehen. Ein paar Dutzend "Kapitäne" von Flüchtlingsschiffen konnten schon festgenommen werden, auch einige ihrer Komplizen in Sizilien, wo laut Admiral Binelli Mantelli mittlerweile die Mafia in dieses Geschäft eingestiegen ist. Nun glauben italienische Ermittler, einem ganz großen Drahtzieher auf die Spur gekommen zu sein, einem 32 Jahre alten Ägypter. Die Behörden in Kairo wurden gebeten, sich um ihn zu kümmern. Aber man kann sicher sein: Sollte er aus dem Verkehr gezogen werden, schließt sich die Lücke sofort. Zu groß ist die Not, zu viel Geld ist mit ihr zu verdienen.

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