Flüchtlingsdebatte:Warum Gerüchte so mächtig sind

Lageso

Kerzen vor dem Lageso-Gebäude für den angeblich verstorbenen syrischen Flüchtling.

(Foto: AFP)

Einer setzt eine falsche Geschichte in die Welt - schon geht sie los, die Hysterie. Warum es so schwer ist, Schauermärchen aus der Welt zu schaffen.

Kommentar von Sebastian Herrmann

Vor Jahren entließ Andrew Wakefield eine Lüge in die Öffentlichkeit, die bis heute durch die Welt vagabundiert. Der Arzt arbeitete für Auftraggeber, die sich eine Veröffentlichung wünschten, mit der sie ihre Agenda vorantreiben konnten. Er fabrizierte eine alarmierende Studie. Es gelang ihm, seine Fälschung in einem renommierten Fachblatt zu publizieren. Nach viel zu langer Zeit flog der Schwindel auf. Der Arzt verlor die Approbation. Die Studie wurde als gefälscht gebrandmarkt. Und gerade deshalb wirkt die Lüge des Andrew Wakefield bis heute: Noch immer fürchten viele Eltern, dass die Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln Autismus auslösen könnte.

Die Karriere der Impfhysterie offenbart ein Dilemma. Wer aufklären will, erreicht oft das Gegenteil. Wer Gerüchte widerlegt, befeuert deren Verbreitung. Zugleich darf Desinformation nicht unwidersprochen bleiben. Mediziner waren gezwungen, die irrigen Behauptungen ihres Kollegen zu entkräften. Sie konnten die Angst vor der Immunisierung nicht ignorieren. Sie mussten dem entgegentreten. Doch haben sie der Lüge ihres Kollegen so eine noch größere Bühne verschafft.

Alle diese Geschichten vergiften die Atmosphäre

Vor dem gleichen Dilemma stehen gerade Politik, Medien und Öffentlichkeit. Sie müssen auf die vielen Fehlinformationen reagieren, die sich in der Flüchtlingsdebatte verbreiten. Die Gerüchte handeln von Sexualstraftaten, von verwüsteten Supermärkten, von Diebstählen, Überfällen, von erfrorenen Menschen vor untätigen Behörden, bis hin zu ganz absurden Behauptungen, in denen abgeschlagene Köpfe eine Rolle spielen.

Manche dieser Lügen werden bewusst in die Welt gesetzt. Andere Gerüchte und Behauptungen entstehen, ohne dass es eindeutige Urheber gibt. Alle diese Geschichten vergiften die Atmosphäre, sie sind Waffen, die Vertrauen zerstören. Und sie sind einfach nicht aus der Welt zu schaffen. Gegen die Verbreitung von Gerüchten haben Psychologen und andere Wissenschaftler bisher keine effektive Therapie gefunden. Sie können allenfalls einige Fehler benennen, die in der Kommunikation vermieden werden sollten.

Wer eine Fehlinformation widerlegen will, hilft sie weiterzuverbreiten

Wer eine Fehlinformation widerlegen möchte, muss sie erzwungenermaßen in Teilen wiederholen. Das aber hilft, diese Unwahrheiten weiter zu verbreiten und wilde Gerüchte in gefühlte Wahrheiten zu verwandeln. Erzeugt eine Aussage aber Empfindungen von Vertrautheit, fördert dies eine Illusion der Wahrheit. Es kostet weniger geistige Mühe, bekannte Informationen zu verarbeiten - und wenn etwas geistig wenig anstrengt, akzeptiert ein Mensch diese Informationen mit höherer Wahrscheinlichkeit als zutreffend. Stete Wiederholung einer Aussage befördert dieses Gefühl der Vertrautheit und geistigen Leichtigkeit. Die Wiederholung einer unwahren Aussage muss deshalb auf das nötige Minimum reduziert werden.

Es reicht nicht, Gerüchte lediglich als falsch zu kennzeichnen. Psychologen mussten in vielen Studien immer wieder beobachten, dass die reine Korrektur einer Fehlinformation verpufft. Es bleibt - vereinfacht gesagt - eine mentale Lücke. Die Information im Gehirn muss mit einer neuen Geschichte überschrieben werden. Hat etwa der Urheber einer Schauergeschichte - wie im konkreten Fall - diese nur in die Welt gesetzt, um auf die Schwächen des Berliner Lageso hinzuweisen? Darüber sollte geredet werden, nicht über die Details seiner erfundenen Räuberpistole, die hier aus den genannten Gründen nicht wiederholt wird.

Irgendwo gelesen, gehört oder gesehen, so entstehen gefühlte Wahrheiten

Der Glaube an etwas muss durch einen neuen Inhalt ersetzt werden: Medien könnten dazu die Entstehungsgeschichten von Gerüchten nacherzählen, die Quellen aufzeigen und wer davon profitiert. Statt falsche Aussagen eines Andrew Wakefield zu wiederholen, entfaltet die Schilderung seines Vorgehens eher Überzeugungskraft. Nach dem gleichen Prinzip müsste über die Motive rechter Bürgerwehren berichtet werden - nicht über die Gerüchte, die sie in die Welt setzen.

Anhand eines Infoblatts der US-Seuchenschutzbehörde demonstrierten Forscher die destruktive Wirkung falsch aufbereiteter Informationen. Die Broschüre listete Ängste vor der Grippeimpfung auf. Diese wurden erst genannt und dann als richtig oder falsch gekennzeichnet. Die Darstellung verfehlte ihre Wirkung: Sobald etwas Zeit vergangen war, hatten die Leser Irrtümer als richtig verinnerlicht. Ob sie mit dem Zusatz "wahr" oder "falsch" versehen gewesen waren, hatten sie vergessen. Irgendwo gelesen, irgendwo gehört oder gesehen, so entstehen gefühlte Wahrheiten. In der aktuellen Situation bedeutet dies: Erfundene Geschichten einer Straftat sollten nicht nacherzählt werden, bevor sie als falsch gekennzeichnet werden. Sonst ist es Geburtshilfe für Gerüchte.

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