Faszination des Baumgartner-Sprungs:Sehnsucht nach Momenten der Maßlosigkeit

Als Felix Baumgartner den Schritt ins Nichts tut, gucken ihm mehr Menschen zu als seinerzeit Obama bei dessen feierlicher Amtseinführung. Woran dieses Interesse an einem nachrangigen Ereignis liegt? Der Österreicher befriedigt das Bedürfnis des Publikums nach unvernünftigem Wagemut. Und sein Rekordversuch birgt den Reiz des Scheiterns.

Marc Felix Serrao

Jetzt, da alles gut gegangen ist, wird auch diese Geschichte von denen erzählt und geschrieben werden, die gewonnen haben. Felix Baumgartner, der tollkühne Abenteurer, und sein Brause-Sponsor feiern ihren Fallschirmsprungrekord, den gemeinsamen Imagegewinn und ihre sicher bald beginnende Tournee durch die Talkshows.

Und die anderen, all jene, die den 43-jährigen Österreicher für einen "irren Ösi" und Aufschneider hielten und halten, brummeln höchstens noch halblaut vor sich hin: Was wäre gewesen, wenn ..?

Ja, was? Ganz einfach: Wenn Baumgartner während seines minutenlangen freien Falls das Bewusstsein verloren und sein Abenteuer nicht überlebt hätte, dann würden jetzt sehr viele hauptberufliche und hobbymäßige Kommentatoren sehr laut über skrupelloses Sponsoring und männliche Riesen-Egos schimpfen, die ihren Trägern und den armen Angehörigen nur Leid bringen. Vom Sturz des Ikarus wäre sicher die Rede, der höher hinauswollte, als gut für ihn war.

Aber: Baumgartner lebt.

Viel interessanter als die Frage nach den schlichten, aber deshalb nicht unbedingt schlechten Motiven des Helden (Ruhm! Geld!) und seines Sponsors (ebenso) ist die Frage nach den Motiven des Publikums. Warum hat dieses menschheitsgeschichtlich eher nachrangige Ereignis den Rekord für Live-Übertragungen im Netz geknackt - mit einer Million Zuschauer mehr, als es die Amtseinführung von US-Präsident Barack Obama hatte?

Weil Baumgartners Sprung "der Wissenschaft" wichtige Erkenntnisse bringen wird, wie Red Bull so pathetisch wie sinnlos behauptete? Eher nicht.

Die bislang beste Erklärung für die Faszination des Publikums steckt in einem Glückwunschtelegramm, das die Europäische Weltraumorganisation (ESA) via Twitter verschickt hat: "Sicher gelandet! Glückwunsch auch von uns an Felix Baumgartner, einen sehr, sehr mutigen Fallschirmspringer!"

Mut. Ein schönes, ein altes Wort. Etwas unzeitgemäß in diesen Tagen, in denen irgendwie alles in einen Bottich getunkt zu werden scheint, auf dem dick und fett "Krise" steht. Wenn heute etwas gefordert wird, dann Mäßigung, Vorsicht und Vernunft. Ein Mann, der sich jahrelang und für irre viel Geld darauf vorbereitet, aus größtmöglicher Höhe zur Erde zu stürzen, wirkt da wie aus der Zeit gefallen. Ein Macho. Ein Machosaurier. Einerseits.

Spring doch!

Andererseits war das den vielen Leuten, die live vor dem Bildschirm hingen, genauso wurscht wie die Tatsache, dass dieses Abenteuer, erstens, wissenschaftlich Banane und, zweitens, von einem turbokapitalistischen Willen in die Höhe getrieben wurde. Das Publikum war von etwas anderem fasziniert, etwas, von dem die Menschen schon immer fasziniert waren, jeden Alters und zu jeder Zeit.

Dem Moment nämlich, in dem Einer aus der Riege der Maßvollen und Vernünftigen heraustritt und etwas tut, was der Rest nie wagen würde. Mit dreihundert Sachen in einem Rennwagen herumjagen. Ohne Sauerstoff Hunderte Meter tief tauchen. Im Flügelanzug über einen Bergkamm rasen. Oder, wie jetzt, schneller als der Schall vom Himmel fallen.

Das Interesse an solchen Momenten der Maßlosigkeit ist dabei nicht annähernd so edel und rein wie all die Glückwünsche, die nun auf Baumgartner und seinen Sponsor einprasseln. Wer zuschaut, wenn einer seine Tapferkeit auf die Probe stellt, tut das natürlich, weil ihn auch das mögliche Scheitern reizt.

Spring doch! Das rufen schon Demjenigen, der auf dem Zehnmeterbrett steht, nicht nur die zu, die auf einen gelungenen Sprung hoffen. Ein schmerzhafter Bauchklatscher wird mindestens so gern gesehen wie der Kopfsprung. Spring doch: In der Aufforderung steckt mindestens so viel Schadenfreude wie gut gemeinte Unterstützung.

Das Urteil hängt vom Ausgang ab

Oder warum haben die Kommentatoren im Red-Bull-eigenen TV-Sender das Risiko des Sprungs (Bewusstlosigkeit! Explodierende Augäpfel!) so oft wiederholt? Aus Sorge. Um die Quote.

Das ist letztlich das, nein, nicht verlogene, aber sehr Menschliche an solchen Spektakeln: Das Urteil hängt vom Ausgang ab. Das gilt nicht nur für die professionellen Beobachter der Europäischen Weltraumorganisation. Das gilt für alle, die am Sonntagabend wie gebannt vor dem Fernseher oder dem PC hingen, als der "furchtlose Felix", wie seine Bewunderer ihn nennen, in 39 Kilometern Höhe die Luke seiner Kapsel öffnete, auf die schimmernde Erdoberfläche schaute, salutierte und sprang.

Schon Minuten später, als er sanft gelandet und nicht hart aufgeschlagen war, konnte jeder behaupten, dass man sich diesen und nur diesen Ausgang gewünscht habe. Das ist das Schöne an so einem guten Ausgang: Es kann einem hinterher keiner etwas Schlechtes unterstellen.

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