Familienleben hinter Gittern:"Unsere schönste Zeit"

Sven Tiemann ist in dem Gefängnis aufgewachsen, das sein Vater leitete. Nur eine Schleuse trennte Familie und Verbrecher. Eine prägende Kindheit: Heute ist der Sohn selbst Vollzugsbeamter.

R. Wiegand

Dort drüben am Fenster stand das Bett. Manchmal, erinnert sich Sven Tiemann, hätten die Häftlinge draußen am Gitter entlanggerattert, um ihn zu wecken, "vor allem am Wochenende, da haben die sich einen Spaß daraus gemacht".

Freistunde war schon in der Früh um acht, und dann war für den kleinen Sven die Nacht halt auch vorbei. Denn es war sein Kinderbett, das dort vor dem vergitterten Fenster stand, und sein Blick fiel hinaus auf den Gefängnishof, über den ein Maschendraht gespannt war. Sven Tiemann hat seine Kindheit im Gefängnis verbracht, in Zimmern ohne Aussicht. Er sagt, "es war eine schöne Kindheit."

Nur eine Schleuse trennte die Privaträume

Heute ist Sven Tiemann 37 und selbst Justizvollzugsbeamter wie sein Vater, der seine Familie einst überhaupt erst hinter Gitter gebracht hat. Dieter Tiemann war der letzte Dienstleiter des Gerichtsgefängnisses von Cuxhaven, der auch hinter den Anstaltsmauern wohnte - in einer Dienstwohnung mit vier Zimmern und Küche.

Nur eine Schleuse trennte die Privaträume der Familie vom Gefängnistrakt, bei nächtlichen Zwischenfällen wurde da schon mal im Schlafanzug interveniert. "Wir haben zehn Jahre unter den Gefangenen gelebt", sagt Tiemann senior, heute 65. "Es war unsere schönste Zeit."

Heute ist das Gefängnis von Cuxhaven eine relativ moderne kleine Einrichtung, die als Außenstelle zur Justizvollzugsanstalt Oldenburg gehört. Jeder Gefangene hat einen Schlüssel zu seiner Zelle. Die Räume hinter den historischen Holztüren sind im Jugendherbergsstil eingerichtet, kein Hotel, aber bei weitem kein Kerker.

In Cuxhaven sind die Insassen im offenen Vollzug untergebracht. Die meisten wissen, wie sie sich zu benehmen haben, um gut durch die Haftzeit zu kommen. Nur für die anderen gibt es im Erdgeschoss auch eine Zelle ohne Türgriff. Obwohl das ganze Haus modernisiert wurde, kann sich der heutige Dienstleiter Olaf Schulz nicht vorstellen, selbst hier zu leben, wo er arbeitet. "Niemals", sagt er.

Häftlinge sorgten für sich selbst

Früher war hier die Wohnung der Tiemanns. Wo heute ein Besprechungsraum ist, lag einst das Kinderzimmer. Wenn Sven mit seinen Freunden im Garten spielte, konnten ihm bis zu 30 Gefangene dabei zusehen.

Die Vorgänger der Tiemanns bauten sogar noch selbst Obst und Gemüse im gefängniseigenen Garten an, ein Selbstversorgerknast war es in den sechziger Jahren. Bei den Tiemanns kochte immer der Häftling für seine Mitgefangenen, der das am besten konnte. "Wir hatten hier viele Seeleute", sagt Dieter Tiemann, "da waren gute Köche darunter."

Die Zeiten der sogenannten Gerichtsgefängnisse sind lange vorbei. Bis 1975 gehörte die Cuxhavener Anstalt zum dortigen Amtsgericht. In dem über hundert Jahre alten Gemäuer warteten Tatverdächtige auf ihre Prozesse.

Die Untersuchungshäftlinge waren meistens bis zu sechs Monate zu Gast bei den Tiemanns, auch Mörder waren unter ihnen. "Mich hat das nie interessiert", sagt Sven Tiemann, den als kleiner Junge eher das Gitterfenster zur Küche magisch anzog. Dort steckte ihm der jeweils kochende Häftling gerne mal ein paar Bonbons durch.

Als Kind unter Mördern

Gerichtsgefängnisse gab es einst überall in Deutschland, heute sind die integrierten Dienstwohnungen fast überall nicht mehr bewohnt und größtenteils sogar zu Hafträumen umgebaut. Die kleinen Gefängnisse, die im Zuge der Veränderungen der Vollzugslandschaft noch nicht geschlossen wurden, sind heute Abteilungen der großen JVAs, die ein ganz anderes Konzept verfolgen als der Knast von einst.

Denn dort wurde, trotz der schönen Anekdoten, der Gefangene "vor allem weggeschlossen und verwahrt", sagt Nikola Framme von der Justizvollzugsanstalt Oldenburg. Heute stünde eine menschenwürdige Unterbringung im Vordergrund und vor allem der Gedanke, dass die Gefangenen vom ersten Tag ihrer Inhaftierung an auf die Entlassung vorbereitet werden sollen.

Gefängnisromantik und "Knacki-Ehre"

Der Gedanke war vor 30 Jahren noch nicht so wichtig, dafür war es damals wohl irgendwie gemütlicher. An einen "Familienknast" erinnert sich Dieter Tiemann heute, wenn er von der Anstalt spricht, der er einst als Dienstleiter vorstand.

Es ist eine Geschichte aus einer anderen Zeit, in der es womöglich tatsächlich eine Art Gefängnisromantik und eine "Knacki-Ehre" gegeben hat. Tiemann ist überzeugt, dass es so war. Man kannte und man traute sich. Manchmal hat er erst nach einer freundlichen Begrüßung gemerkt, dass er den, der ihn da gerade in der Stadt mit "Guten Tag, Herr Tiemann" angesprochen hatte, schon mal in seinen Räumen beherbergen durfte.

Hübsche Anekdoten sind das. Der Metzger spendierte so viel Fleisch für den Knast, dass die Erbsensuppe dort berühmt war: "Mehr Fleisch als Erbsen." Handwerklich begabte Insassen hielten das alte Gemäuer selbst instand und durften dafür länger aus ihren Zellen heraus, in denen die anderen 23 Stunden lang einsaßen. Es gab unter den Gefangenen den Koch, den Essensverteiler und den "Vertrauensknacki", wie Tiemann senior ihn nennt.

Der habe manchmal draußen der größte Schläger sein können, im Gefängnis aber sei er höflich und zuvorkommend gewesen. Fluchtversuche wurden noch nach Altvätersitte mit zusammengeknoteter Bettwäsche bewerkstelligt, gelegentlich sogar erfolgreich. Versuchte indes jemand, die Gitter durchzusägen, hörten die Tiemanns das im Wohnzimmer - Fluch und Segen einer Dienstwohnung.

Verklärtes Bild vom Knast

Alles in allem entsteht so ein eher verklärtes Bild vom Knast, in das auch das Wandbild oben im Gemeinschaftsraum passt. Dort hat ein künstlerisch begabter Gefangener, der regelmäßig einsaß, eine Hafenkulisse über den Billardtisch gemalt. Das Boot, das im Becken dümpelt, trug immer den Namen seiner jeweiligen Freundin; hatte er eine Neue, wenn er wieder hinter Gitter zurückkehrte, übermalte er das Bild. Der letzte Stand: "Kerstin". Der Mann soll heute verheiratet sein. Ob mit Kerstin, ist ungeklärt.

"Wir hatten noch einen persönlichen Draht zu den Gefangenen", sagt Dieter Tiemann, der froh war, als sein Sohn Sven eine zunächst eingeschlagene kaufmännische Laufbahn aufgab und selbst in den Strafvollzug einstieg. Eine sichere Sache sei das; etwas mit Zukunft. Während sein Vater heute pensioniert ist, erlebt Tiemann junior nach den seligen Zeiten seiner Kindheit im Cuxhavener Familienknast nun den modernen Strafvollzug in großen, anonymeren Anstalten.

Angst kannte er nicht, als er in Stade seine Ausbildung machte, mit Mördern hatte er ja schon als Junge zu tun gehabt. Sie wohnten hinter der Glastür im Flur. Aber als er dann auf dem Flur in Stade drei Schwerverbrechern begegnete, die dem neuen Vollzugsbeamten ein mürrisches "ah, Frischfleisch" zuraunten, "da wurde mir schon mulmig." Ein Vertrauensverhältnis zwischen Häftlingen und Beamten, wie es das einst daheim in Cuxhaven gegeben habe, sei heute kaum mehr möglich. Die Zeiten hätten sich geändert.

Der spezielle Reiz des Lebens im Gefängnis hält die Tiemanns aber trotzdem auch in zweiter Generation gefangen. Die Familie war zwar Mitte der achtziger Jahre aus dem Gefängnis ausgezogen, blieb aber im Milieu: Sie bezogen eine neue Dienstwohnung in einem Anbau des Amtsgerichts, in der heute Sven Tiemann mit seiner Familie lebt.

Wenn er die Wohnungstür öffnet, schaut er auf eine schwere Eisenpforte mit Sicherheitsschloss, die vom Treppenhaus abgeht. Dahinter finden sich Zellen für den Wochenendarrest von Jugendlichen.

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