Explosionen in China:Druckwelle bis in die Regierung

  • Bei Explosionen in einem Containerhafen der chinesischen Stadt Tianjin werden nach offiziellen Angaben mindestens 44 Menschen getötet und Hunderte verletzt.
  • Die Umsetzung von Sicherheitsbestimmungen im Land wird durch Korruption und schlecht ausgebildetes Personal erschwert.
  • Jede Katastrophe erschüttert das Vertrauen der Chinesen in die Regierung aufs Neue. Der Zeitpunkt ist denkbar schlecht.

Analyse von Marcel Grzanna, Shanghai

Die Explosion einer Lagerhalle in der Küstenstadt Tianjin mit Dutzenden Toten hat in China erneut eine Diskussion über die laxe Umsetzung von Sicherheitsbestimmungen im industriellen Sektor ausgelöst. Die Angehörigen der Opfer und Experten fragen sich, wie es zu der verheerenden Detonation auf dem Hafengelände kommen konnte, obwohl es sich um einen Lagerplatz eigens für Gefahrgüter handelte.

"Die Wirtschaft entwickelt sich immer weiter, aber unsere Brandschutzregeln sind immer noch die gleichen wie vor 20 Jahren. Es kümmert sich niemand darum, dass sie auf den aktuellen Stand gebracht werden", klagt der unabhängige Brandschutzfachmann Wang Weisheng aus dem südchinesischen Guangzhou.

Die Lagerung am Hafen ist in der Regel nur vorübergehend. Daher bestehe die Gefahr, dass die Verantwortlichen für den kurzen Zeitraum den Sicherheitsprozess abkürzen wollen, um sich den bürokratischen und finanziellen Aufwand zu sparen. "Im Normalfall wird die Lagerung von Gefahrgütern angemeldet und dann von Experten vor Ort überprüft, damit solche Unglücke ausgeschlossen werden. Möglicherweise gab es in Tianjin eine Lücke in diesem Netz", so Wang. Die Behörden ermitteln. Die Manager der zuständigen Logistikfirma sind festgenommen. In vergleichbaren Fällen dauerte es meist nur wenige Tage, bis die Ermittler ihr endgültiges Resultat vorlegten.

140 Millionen Euro für unnötige Helikopter

Problematisch in Sachen Brandschutz ist auch die strenge Hierarchie, die sich durch die Abteilungen zieht. Die Führungspositionen sind oft nach politischem Kalkül vergeben und von Parteikadern besetzt ohne ausreichende Fachkenntnis. Die ausgebildeten Experten haben dann meistens keinerlei Autorität. Beispielhaft dafür steht die Entscheidung eines Pekinger Funktionärs, für den Brandschutz der Hauptstadt eine Milliarde Yuan, umgerechnet knapp 140 Millionen Euro für die Anschaffung von Helikoptern zu investieren. Wang hält ihren Einsatz bei Großbränden in der Metropole für unsinnig. Die Rauchentwicklung und die Hitze über den Gebäuden stellten für Helikopter eine zu große Gefahr dar. Außerdem würden sie mit ihren Rotoren zusätzlichen Sauerstoff in die Flammen wirbeln und das Feuer weiter anfachen.

Chinas Industrie wird regelmäßig von Brandkatastrophen oder Explosionen überschattet. Das letzte Unglück mit ähnlich großem Ausmaß gab es vor etwa genau einem Jahr 70 Kilometer nordwestlich von Shanghai. Damals starben bei einer Explosion in einer Autoteilefabrik in Kunshan 75 Menschen, weil die Lüftungsanlage unzureichend funktionierte und sich die Luft wegen einer zu hohen Feinstaubbelastung entzündete.

Jede Katastrophe erschüttert das Vertrauen in die Regierung weiter

Die Regierung in Peking versetzen diese Katastrophen in höchste Alarmstufe, weil immer wieder Vorwürfe laut werden, sie würde es zulassen, dass chinesische Unternehmen ihren eigenen Profit über die Sicherheit ihrer Angestellten stellen würden. Vor einem Jahr schaltete sich deshalb der Staatsrat, das chinesische Regierungskabinett, ein. Es folgten landesweite Inspektionen von Fabriken.

Auch im jüngsten Fall machten Nutzer im Internet sofort schlechtes Management und menschliches Versagen verantwortlich. "Wenn das System nicht von der Wurzel an verändert und das Management verbessert wird, dann nutzt all das Reden nicht. Die Unfall- und Todesrate wird nicht geringer werden. Es werden immer neue Opfer sterben", schreibt ein Kommentator bei der Diskussionsplattform Zhihu. Beim Kurznachrichtendienst Weibo fragte eine Nutzerin: "Könnt ihr den Menschen eine sichere Umgebung bieten?" Jede Katastrophe erschüttert das Vertrauen in die Regierung aufs Neue. Der Zeitpunkt ist denkbar schlecht, weil die stotternde Wirtschaft und der Einbruch am Aktienmarkt den Unmut der Menschen provoziert haben.

Zwei Hauptprobleme belasten die Sicherheit: Korruption und Personal. Um staatliche Auflagen zu umgehen, greifen Firmenmanager gerne großzügig in die eigene Tasche und bestechen die Kontrolleure. Zudem sind gut ausgebildete Mitarbeiter schwer zu finden. Das enorme Wachstum der chinesischen Wirtschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten einen großen Fachkräftemangel nach sich gezogen.

Nicht jede Firma findet unter diesen Bedingungen solche Mitarbeiter, die zur Handhabe von Gefahrengut geeignet ist. Hinzu kommt, dass sich die Firmen nicht immer um die Weiterbildung ihres Personals kümmern. Ein Mitarbeiter der Logistikfirma, die das Lager betrieb, bestätigte der chinesischen Internetseite cnr.cn, dass er nie eine Schulung für den Umgang mit gefährlichen chemischen Substanzen erhalten habe.

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