Experiment in der Schweiz:Kriminelle erkennen, bevor sie kriminell werden

Warnstreik am Flughafen Verdi Öffentlicher Dienst

Den potenitellen Kriminellen schon vor der Tat erkennen - eine Studie der Züricher Universität beweist anhand von Überwachungsaufnahmen an Flughäfen, dass das geht.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • An der Universität Zürich wurde untersucht, ob Kriminelle bereits vor der Tat erkannt werden können.
  • Polizisten, aber auch Laien, identifizierten auf Flughafen-Videos künftige Gepäckdiebe mit einer relativ großen Trefferquote.
  • Die Forscher interessieren sich auch für die Frage, ob so möglicherweise Terroranschläge verhindert werden können.

Von Jochen Paulus, Zürich

Gepäckdiebe nutzen den Augenblick. Sie greifen oft aus einer Menschenmenge heraus zu und verschwinden mit der Beute sofort wieder in ihr. Das macht es schwer für Polizisten, die Täter zu fassen. Die Ordnungskräfte hätten bessere Chancen, wenn sie die Gauner in spe wenigstens ein paar Sekunden vor der Tat erkennen würden.

Nun kann man nicht alle paar Meter einen Aufpasser postieren. Aber vielleicht lässt sich die Vorbereitung der Straftat auf dem Bild einer der Überwachungskameras entdecken, wie sie zahlreich an öffentlichen Orten installiert sind. Ob das geht und wer es kann, hat die Psychologin Corinne Koller von der Universität Zürich untersucht - im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts mit der Kantonspolizei Zürich, das ihre Kollegin Franziska Hofer leitet.

So wurden 315 Freiwillige getestet

Das Forscherteam suchte zwölf ein bis zwei Minuten lange Aufzeichnungen von Überwachungskameras des Flughafens Zürich aus. Sie zeigten den Abfertigungsbereich oder das Shoppingcenter mit Dutzenden bis Hunderten von Menschen. Unter ihnen befanden sich 23 verschiedene Diebe, die einzeln oder in Gruppen auf Beutezug waren. 315 Freiwillige mit unterschiedlicher Vorerfahrung sollten sie auf den Videos ausmachen, bevor sie zuschlugen. Würden erfahrene Kriminalisten besser abschneiden als Laien?

Wie Psychologen aus vielen Untersuchungen wissen, ist es nicht einfach, brave von weniger braven Menschen zu unterscheiden. Wenn etwa beide behaupten, dass sie eine Tat nicht begangen haben, können selbst Polizisten kaum unterscheiden, wer lügt. Zwar glauben viele, dass sie an irgendwelchen verdächtigen Verhaltensweisen erkennen können, dass jemand nicht die Wahrheit sagt. Aber das klappt meistens nicht. Und in diesem Fall hatten die unters Volk gemischten Kriminellen ja noch gar nichts gemacht.

Alle Videos endeten, einen Moment bevor die Diebe zuschlugen. Die Forscher stoppten die Aufzeichnungen jedoch schon vorher zweimal, um zu sehen, ob Täter bereits dadurch erkennbar verdächtige Verhaltensweisen verraten. Eine gute Minute vor dem Diebstahl tippten sowohl Studierende wie auch Jungpolizisten ganz am Anfang ihrer Ausbildung blind auf irgendjemanden. Doch schon nach einem Jahr Training entlarvten die Polizisten jeden dritten Dieb.

Erfahrene Polizisten erkannten drei Viertel der Diebe - vor der Tat

Die erfahreneren Kräfte lagen noch besser. Lief die Aufzeichnung noch etwas weiter, holten die beiden Gruppen ohne Polizeierfahrung auf. Am Schluss erkannten sie jeden zweiten Kriminellen vor der Tat. Die Kriminalisten der Zürcher Polizei entdeckten ebenso wie andere erfahrene Polizisten drei Viertel der Diebe. Corinne Koller vom Forscherteam war überrascht, dass selbst die Laien gar nicht so schlecht abschnitten. Dass die polizeilichen Experten glänzten, erstaunte sie weniger.

Woran aber erkennen die Spezialisten und bis zu einem gewissen Grad sogar die Laien die Täter schon vor der Tat? Als die Forscher die Beamten befragten, stellte sich heraus: Die Polizisten nehmen das Gewusel am Flughafen als Ganzes wahr, doch die Diebe springen in ihren Augen aus dem Bild gewissermassen heraus. Denn die erfahrenen Kräfte wissen zumindest unbewusst ein Stück weit, wie ihre kriminellen Kunden vorgehen.

Das Wissenschaftlerteam wollte wissen, wodurch genau Verbrecher sich im Vorfeld der Tat verdächtig machen. Das war das Ziel von weiteren Studien. Wieder wurden Videos von Gepäckdieben vorgeführt. Diesmal ging es aber auch um die Frage, ob sich womöglich sogar Terroristen erkennen lassen, bevor sie zuschlagen.

Gepäckdiebe verändern ihre Position öfter als Passanten

Da glücklicherweise nicht regelmäßig Attentäter über Flughäfen oder Bahnhöfe laufen, bekamen Sicherheitsleute den Auftrag, an solchen Orten eine ­Pseudobombe so zu deponieren, dass sie im Ernstfall möglichst viele Menschen töten würde. Natürlich kann man nicht sicher sein, dass sie sich wie wirkliche Terroristen verhielten. Anderseits verfügen zumindest selbstradikalisierte Täter ebenfalls über keine Ausbildung, und einschlägige Vorerfahrungen haben Selbstmordattentäter naturgemäß auch keine. Die falschen Terroristen wurden gefilmt.

Es mag einfach sein, Kriminelle bei der Tatvorbereitung und müßig Herumschlendernde auseinanderzuhalten. Sicherheitskräfte müssen Täter aber auch von denen unterscheiden, die einen anderen, harmlosen Plan verfolgen. Bei der Auswertung der Videos zeigten sich tatsächlich einige Auffälligkeiten. Sie entlarven noch niemanden als gefährlich, aber sie geben Sicherheitsleuten Hinweise, worauf sie achten können: Gepäckdiebe verändern ihre Position öfter als Passanten, (Pseudo-)Terroristen dagegen seltener. Ausserdem ändern Diebe ihre Richtung sowie ihre Geschwindigkeit häufiger und machen mehr Kopf­bewegungen als Unschuldige, während Menschen auf der Suche nach dem idealen Platz für eine Bombe sich in diesen Punkten überhaupt nicht auffällig benehmen.

Lassen sich auch Terroristen frühzeitig erkennen?

Die Forscher überprüften auch, ob (Pseudo-)Terroristen besonders viele nervöse Verhaltensweisen zeigen, wie Kriminalisten es in Gesprächen behaupteten. Das bestätigte sich nur teilweise. Während der Suche nach einem guten Ort für eine Bombe fuhren sich die Gefilmten nicht öfter mit der Hand übers Gesicht oder ihren Körper und sogar besonders selten durchs Haar. Vielleicht unterdrückten sie solche Gesten der Aufregung gerade, weil sie sogar für Laien als verdächtig gelten. Dafür vergaßen sie aber, andere auffällige Verhaltensweisen zu kontrollieren: Sie spielten verdächtig viel mit Gegenständen herum, etwa mit ihrem Smartphone.

Möglicherweise lassen sich auch echte Terroristen mit einer gewissen Treffsicherheit aus der Menge herauspicken, etwa wenn sie schon vor der Tat das Gelände sondieren. "Wir glauben, dass wir das erkennen können", sagt Corinne Koller. Allerdings wird dazu noch einige Forschung nötig sein. Das von der Kantonspolizei Zürich und dem Bundesamt für Zivilluftfahrt finanzierte Projekt des Züricher Teams allerdings läuft aus, und die Suche nach neuen Geldgebern gestaltet sich schwierig.

Dieser Artikel erschien zuerst im "Tages-Anzeiger" vom 03. Juli 2016

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