Ex-FBI-Agent Joe Navarro:Welt voller Psychopathen

Achtung, Achtung, hier spricht ein Ex-FBI-Agent: Die Welt ist voller böser Menschen, schreibt Joe Navarro in seinem neuen Buch. Ihr Kollege, Ihr Nachbar, vielleicht Ihr Kind - alles potenzielle Mörder, Vergewaltiger oder sonstige Psychos. Panikmache oder wertvolle Analyse?

Von Ruth Schneeberger

Sie kennen vielleicht auch so jemanden, für den es entscheidend ist, gut dazustehen. Er achtet sehr auf sein Äußeres und nutzt sein Aussehen, um andere zu beeindrucken. Er ist glücklich, wenn sich auf Partys alle Aufmerksamkeit auf ihn richtet. Er stellt sich gerne als brillanten Investor, Künstler, Musiker oder Anführer dar. An Misserfolgen sind immer nur die anderen schuld - niemals er selbst.

Kommt Ihnen bekannt vor? Es könnte sein, dass dieser Narzisst Sie demnächst nicht mehr nur fasziniert oder nervt. Es könnte sein, dass Sie in Bälde - oder schon jetzt, womöglich noch unbemerkt - extrem unter ihm leiden. Seelisch, körperlich, finanziell. Und nicht nur das: Vielleicht ist Ihr Narzisst sogar einer dieser ganz schlimmen Fälle, die sich irgendwann als Serienmörder, Vergewaltiger oder Terrorist entpuppen. Nehmen Sie also bloß Reißaus!

So zumindest der Rat von Joe Navarro. Das jüngste Buch des Ex-FBI-Agenten und US-Bestsellerautors ist am Freitag in Deutschland beim Münchner mvg-Verlag erschienen: "Die Psychopathen unter uns".

Sie sind das Opfer

Wie, Sie leben ganz gut mit Ihrem kleinen Psychopathen? Sie können nicht glauben, dass Ihr Freund, Ihr Chef oder vielleicht sogar Ihr Töchterchen Ihnen ernsthaft gefährlich werden könnte, Sie lehnen also ein striktes Kontaktverbot ab?

Nicht mit Joe Navarro: Bevor er zum Bestsellerautor wurde und die Menschheit darüber aufklärte, wie sich Verbrecher oder auch bislang Unverdächtige anhand ihrer Körpersprache verdächtig machen, hat er im Laufe seines Berufsleben so viele Kriminelle gesehen, verhaftet, verhört und verfolgt, dass er sich absolut sicher ist, uns alle warnen zu müssen. Vor Psychopathen, die Leben zerstören.

Das ist erst einmal ein ehrenhaftes Motiv. Der gute Mann hat einen Wissensvorsprung, dem er seinen Leser nicht vorenthalten will. Natürlich weiß der 1953 Geborene besser als andere, woran sich gefährliche Psychopathen erkennen lassen, mit welchen Tricks sie arbeiten, und wie man Kriminelle hätte stoppen können, wenn ihr grausames Ansinnen rechtzeitig als solches erkannt worden wäre. Er hat sie erlebt, er weiß, womit sie sich herausreden und wie sie zu dem wurden, was sie sind. Er hat nach eigenen Angaben vor allem ein Ziel: die Opfer zu schützen.

Deshalb beschreibt er - neben dem Narzissmus - drei weitere schwere Persönlichkeitsstörungen.

Emotional gestört, paranoid - oder gar ein menschliches Raubtier?

KIEFER SUTHERLAND

Auch so ein Psychopath: Kiefer Sutherland in "Ort der Wahrheit", einer filmischen Reminiszenz an "Bonnie und Clyde" mit einem Schuss "Pulp Fiction". Doch echte Psychopathen sind beileibe nicht immer als solche zu erkennen.

(Foto: DPA)
  • Die emotional instabile Persönlichkeit: Menschen, "sprunghaft wie Aprilwetter". Eben noch himmelhochjauchzend, gleich darauf zu Tode betrübt. Sie könnten talentiert, charmant und verführerisch sein - und im Handumdrehen feindselig, impulsiv, irrational. Nicht launisch sei die passende Vokabel für solche Extremtypen, sondern: gefährlich. Denn sie gefährdeten nicht nur sich und ihre Beziehungen durch ihren Überschwang. Um sich lebendig zu fühlen, würden sie zum Manipulator und Aggressor. Hintergrund für die Störung seien oft ein instabiles Elternhaus, Drogenerfahrungen oder Missbrauch.
  • Die paranoide Persönlichkeit: Typ einsiedlerischer Nachbar, der im Keller lebt und überall Feinde sieht. Oder der Schüler, der den halben Tag lang im Internet surft und von einer neuen Weltordnung träumt, die er am liebsten selbst herbeiführen will - notfalls mit Gewalt. Paranoide Menschen würden im Gegensatz zu den Narzissten oft für seltsam gehalten, weil sie krude Ansichten pflegten und die Welt in Freund und Feind aufteilten, wobei letzteres überwiege, schreibt Navarro. Ihr inneres Alarmsystem sei überaktiv. Wie der ursprünglich brillante Wissenschaftler, dem niemand zuhören wollte, und der sich in eine miefige Hütte zurückzog, um Briefbomben zu verschicken - der "Unabomber" Ted Kaczynski.
  • Die dissoziale Persönlichkeit: Navarro nennt sie "das Raubtier". Ihm selbst hätten sich einst die Nackenhaare aufgestellt, als er als 17-jähriger Polizist unerwartet einem Einbrecher in seine "reptilienhaft kalten Augen" gesehen habe - vielen Menschen würde es mit diesem Typ Mensch ähnlich ergehen. Körperliches Unwohlsein, Magenschmerzen, starke Ermüdungserscheinungen könnten auftreten, schreibt Navarro, sobald man es mit einem menschlichen "Raubtier" zu tun habe - weil diese ihren Opfern die Energie raubten. Mitunter auch Geld, Unschuld, oder gar das Leben. In der Beschreibung der dissozialen Persönlichkeit ist der Autor besonders vehement: "In keiner Beziehung, in keiner Familie mit einem Raubtier gibt es jemals Sicherheit." Denn dieser Persönlichkeitstyp plane sein Leben gezielt danach, andere auszunehmen: "Für Raubtiere ist das Leben ein Spiel, das sich um die Frage dreht: Womit komme ich noch durch? Und so planen und täuschen sie", schreibt Navarro. "Jeder Serienvergewaltiger, Zuhälter, Kinderschänder, Menschenhändler und Mafioso ist ein Raubtier. Ebenso jeder, der sich gezielt ältere Menschen oder Kinder als Opfer sucht." Und auch viele Karrieristen seien "Raubtiere", denn das Wirtschaftsleben, "gerade in der Hochfinanz", fördere ihr aggressives, manipulatives und kaltschnäuziges Auftreten.

Sobald dem Leser all diese unangenehmen Typen präsentiert worden sind, mischt der Autor sie wieder durcheinander. Denn: Es gebe ja noch die kombinierten Persönlichkeitsstörungen, so Navarro, und die seien besonders übel: "Eine ist schlimm, zwei sind schrecklich, drei sind tödlich."

Hitler, Stalin - und vielleicht mein Ehemann?

Viele der weltweit durch ihre grausamen Taten zu Berühmtheit gelangten Psychopathen hätten - in der Rückschau - mehrere der genannten Persönlichkeitsstörungen in sich vereint. Adolf Hitler etwa (wobei das kaum begründet wird), Josef Stalin und Pol Pot, aber auch Anders Behring Breivik oder Charles Manson. Besonders häufig und mordsgefährlich sei die Kombination Narzisst und Raubtier. Die meisten Massenmörder und Kriegsherren wiesen Persönlichkeitsstörungen dieser Art auf.

Und da steht der arme Leser nun, aufgewiegelt durch einen Ex-Polizisten aus einem Land zwischen Terror-Angst und Überwachungsskandal, und fragt sich: Ist es denn wirklich so schlimm? Muss ich mich von meinem Ehemann scheiden lassen, weil er bisweilen zwar "bombastisch, charismatisch, clever, strahlend, witzig" ist (wie Navarro Opfer den typischen Narzissten beschreiben lässt), aber auch "aalglatt, angstfrei, heftig, theatralisch und verächtlich"? Wird er sich irgendwann in den totalen Psychopathen verwandeln und mir ernsthaft schaden?

"Seine Affären sind heiß, aber kurzlebig"

Nimmt man nämlich Navarro ernst, ist das mit hoher Wahrscheinlichkeit so. Frei nach dem Motto "Diese Typen ändern sich nie - also sehen Sie zu, dass Sie Land gewinnen", rät er seinen Lesern, sich vor allem vor "Raubtieren" in Schutz zu nehmen, aber auch vor Narzissten - weil sie sich eh immer nur um sich selbst drehten. Kombinierte Persönlichkeitsstörungen sind sowieso die schlimmsten, also: Finger weg, rät der Kriminalist. Nur im Umgang mit emotional instabilen ("die Therapie wird lang und intensiv, aber sie kann durchaus helfen") oder paranoiden Persönlichkeiten ("Sie können versuchen, professionelle Hilfe zu organisieren, aber passen Sie bitte auf") ist er etwas milder und rät nicht explizit, diese Menschen komplett zu meiden.

Damit der Leser selbst herausfinden kann, mit welcher Art Psychopath er es in seinem Umfeld zu tun hat und wie weit die Persönlichkeitsstörung fortgeschritten sei, präsentiert Navarro Tests zum Ankreuzen für jeden der vier Typen. "Hat am Arbeitsplatz große Wut auf seine Kollegen geäußert." "Seine Affären sind heiß, aber kurzlebig." "Redet ständig von sich und seinen Plänen." "Ist intolerant gegenüber Meinungen anderer", oder auch: "Ist manipulativ und schafft es nur zu oft, Menschen dazu zu bringen, etwas für ihn zu tun." Wer diese für sich genommen noch vergleichsweise harmlos wirkenden Äußerungen pro Persönlichkeitsstörung bis zu 35 Mal ankreuzt, muss sich laut Navarro zwar Sorgen machen, aber noch nicht allzu große. Bis zu 65 Kreuzchen deuten definitiv auf die Persönlichkeitsstörung hin. Noch mehr Kreuzchen erhalten laut Navarro nur hoffnungslose Fälle.

Denn den Ex-FBI-Agenten interessieren, so schreibt er, nicht die Täter, sondern die Opfer. "Es gibt zwei Typen Mensch auf dieser Welt: diejenigen, die geben, und die, die nehmen", stellt er seinem Werk voran. Ein Satz, der das Problem des gesamten Buches zusammenfasst.

Unter Generalverdacht

Denn es gibt eben nicht nur schwarz und weiß. Viele dieser oft beschriebenen Persönlichkeitsstörungen (im Übrigen sogar unter demselben Buchtitel bereits von Psychologen verfasst, teils gar bewundernd) tauchen bei Menschen in so geringem Umfang auf, dass sie zwar unangenehm sind - aber nicht unbedingt immer gefährlich.

Die Welt wäre wohl voller einsamer und dadurch vielleicht noch gefährlicherer Psychopathen, wenn sich jeder den Ratschlag zu Herzen nehmen würde, Menschen mit diesen Anwandlungen komplett zu meiden. Und wer garantiert Navarro, dass nicht ein Psychopath diese Tests mit seinen eigenen Angehörigen macht - und sich dadurch erst recht zu Straftaten verführen lässt? Oder dass eine vergleichsweise harmlose Paranoia-Frau mit einem halbwegs psychopathischen Narzissten-Mann glücklich werden kann - und nur mit ihm, weil alle anderen ihre Andersartigkeit überfordern würde? Und er ihre Probleme nicht so wild findet, weil er sowieso meist mit sich beschäftigt ist? Während sie seine Egozentrik von sich selbst ablenkt? Die Welt ist bunt. Und ein bisschen Psychopathentum lauert eben überall. Mit letzterem liegt Navarro wohl richtig. Allerdings sind seine Ratschläge doch arg durch seinen ehemaligen Job geprägt. Und stellen erst mal die gesamte Menschheit unter Generalverdacht.

Dabei krankt die Analyse noch weniger am Bezug zur Realität als an der redundant vorgetragenen und leicht manipulativen Darstellung, wie sie typisch ist für US-Ratgeberliteratur.

Das Übermaß an Misstrauen, mit dem Navarro auf die Welt blickt, wäre besser auf die vielen Menschen verteilt, die zu gutgläubig durchs Leben gehen. Denn in diesem Punkt hat der Autor absolut recht: Viele Verbrechen können gerade deshalb geschehen, weil die Opfer ihre körperlichen wie seelischen Peiniger komplett unterschätzt haben. Oder ihnen zu sehr vertrauen - wollen.

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