Eurovision Song Contest 2003:Das Jemini-Projekt

Der "Schlager Grand Prix" in Riga: Schmierig, schmalzig, seicht und würdelos, aber es gibt Hoffnung.

(SZ vom 26.05.2003) Axel Bulthaupt ist ein freundlicher Mann. Er besitzt eine besondere Gabe, die vielen anderen Menschen in Deutschland abgeht: Begeisterungsfähigkeit. Um 20.15 Uhr meldete er sich Samstagabend aus dem Grand-Prix-Studio der ARD an der Hamburger Reeperbahn, hinter ihm eine Menschenmenge aus eher verhalten johlenden Schlachtenbummlern, doch Bulthaupt stellte fest, dass "bereits eine Wahnsinns-Stimmung" herrsche. Gegen Mitternacht, nachdem die Schlacht in Riga geschlagen war, schaltete die ARD wieder zu Bulthaupt, der sich erwartungsgemäß völlig aus dem Häuschen zeigte: "Ein fantastischer Abend, überragende Darbietungen". Die Tatsache, dass der deutsche Beitrag Let's Get Happy im 26er-Feld auf Rang zwölf landete, fand Bulthaupt "respektabel", einen "Achtungserfolg".

Als Fernsehzuschauer ist man angesichts solcher Begeisterung dann doch wieder ratlos. Man fängt an sich Fragen zu stellen und ist doch zu müde, sie zu beantworten. Vielleicht gibt es keine Antworten, denkt man. Und woher bezieht der Mann seine gute Laune? Hat man selbst Entscheidendes verpasst? Wie nennt man eigentlich dieses rhetorische Stilmittel, wenn eine Niederlage als "Achtungserfolg" bezeichnet wird? Euphemismus? Oder spricht man da im Gedenken an den irakischen Informationsminister Mohammed Said el Sahaf, kurz "Mo" genannt, besser von Moismus?

Jedenfalls lassen sich aus den vielen Aussagen von "Ax", dem Informationsminister der ARD während dieser langen Grand-Prix-Nacht, vor allem zwei Botschaften destillieren. Erstens: Es war ein fantastischer Abend. Und zweitens: Im nächsten Jahr wird alles anders. Axel Bulthaupt, das ist schon mal die erste Änderung, wird 2004 nicht mehr dabei sein. Außerdem soll es ein extra Halbfinale geben, das am Tag vorher ausgestrahlt wird, 40 Länder werden künftig teilnehmen - eine wahre Reformwelle hat die wertkonservative Institution erfasst, die lange mit sich ringen musste, ehe sie ihren Namen von Grand Prix Eurovision de la Chanson in European Song Contest änderte, was irgendwie moderner klingt.

Auch auf nationaler Ebene wird fieberhaft an Modernisierungskonzepten gearbeitet. Vielleicht richtet der Musiksender Viva künftig gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk die Qualifikation aus, vielleicht auch nicht, vielleicht in Form einer Casting-Show, vielleicht auch in völlig anderer Form. "Wir streben eine Änderung in möglichst vielen Aspekten an", sagt NDR-Unterhaltungschef Jürgen Meier-Beer, "aber was wirklich anders wird, weiß ich noch nicht."

Wie nett. Sicher ist nur: Dem Konkurrenz-Wettbewerb Deutschland sucht den Superstar muss Einhalt geboten werden, denn der gilt als Hauptschuldiger am aktuellen Aufmerksamkeits-Defizit. Keine einzige Bild-Titel-Story sprang für unsere Lou heraus, obwohl die sich doch vor der Abreise nach Riga schnell ein paar Falten im Gesicht straffen ließ.

Der Grand Prix steht jetzt vor einer ähnlichen Situation wie die öffentlich-rechtlichen Sender beim Start des Privatfernsehens. Plötzlich sind da junge Leute, die schneller sind, skrupelloser, populistischer, risikofreudiger. Mit einem Mal wird klar, in was für einem Beamtenladen die Alten die ganze Zeit schon hocken.Dieser Misere entkommt man aber nicht, indem man einfach den nationalen Superstar-Gewinner ins Rennen schickt - das musste Irland erfahren, in den neunziger Jahren viermal siegreich und jetzt mit dem ebenso schmierig frisierten wie schmalzig musizierenden Mickey Heart fürchterlich repräsentiert. Auch der spanische Superstar Beth gab eine unglückliche Figur ab, mit globalisierungskritischen Rastazöpfen und einem Titel, der unbeholfen in Richtung Balearen-Disko losstampfte. Ansonsten erinnerte der Beitrag aus Malta fatal an Gitte, der zypriotische gar an Bernhard Brink - kaum zu glauben, doch an den Rändern Europas blüht der deutsche Schlager.

"Welche Relevanz hat der Grand Prix überhaupt noch, bei der Superstar-Suche auf allen Kanälen?", fragte Peter Urban, der Live-Kommentator, zu Beginn der Übertragung aus Riga, und lieferte gleich selbst eine Antwort: "Eine große Relevanz, denn der Grand Prix, das sind die Olympischen Spiele der Popmusik."

Was dann geboten wurde, erreichte oft nur Bezirksklassenqualität: Der Österreicher Alf Poier sang talentfrei eine offenbar humoristisch motivierte Moritat aus dem Tierleben ("Katzerln ham weiche Bratzerln") und behauptete: "Mein Lied ist der momentanen Intelligenz Europas angepasst." Man bekam Lust, Guildo Horn anzurufen und ihm zu seinem Auftritt vor fünf Jahren zu gratulieren - weil der rückwirkend wie eine Sternstunde der subtilen Komik erscheint.

Karmen Stavec aus Slowenien brach mit "Nanana" eine Lanze für dadaistische Sinnfreiheit und wurde übertroffen von der belgischen Formation Urban Trad, deren konfuser Beitrag komplett in einer Fantasiesprache verfasst war. Rita Guerra aus Portugal brachte es fertig, Shakira mit Celin Dion zu fusionieren. Und zwar so, dass ausschließlich das jeweils Negative im Schaffen der beiden Circen auf die Bühne durfte. Über die britische Gruppe Jemini vermochte nicht einmal Urban Lobendes zu flüstern. Die Grand-Prix-Stimme schwieg. Nach einem würdelose Auftritt gabs für Jemini am Ende null Punkte. Meine Güte.

Wie, um den Grand Prix abzugrenzen gegen den Superstar-Wettbewerb, betonte Urban in seinen Moderationen immer wieder den Profi-Status der Kandidaten: Die meisten, die dann auftraten, wirkten allerdings wie ängstliche Newcomer, die beflissen abliefern, was das Genre Grand-Prix-Song offenbar verlangt: minimalen Anspruch, maximale Seichtheit und die Ausblendung all dessen, was im zeitgenössischen Pop passiert.

Kaum einer der Songs von Riga dürfte außerhalb des Reservats Grand Prix Überlebenschancen haben, nicht einmal der Gewinner-Titel "Everyway That I Can" von Sertab Erener aus der Türkei. Ein Gefühl für die Gegenwart, Neugier aufs Hier und Jetzt, das spürte man nur beim Auftritt der Mädchen von t.A.T.u. Die zwei Russinnen, von vielen als Skandalnudeln eingestuft, sangen ein anrührendes Lied. Sie entblößten ihre Seelen und behielten die Kleider an. Ganz ohne Lesben-Provokation gewannen sie die Herzen und schafften am Ende Platz drei. Es gibt Hoffnung.

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