Esoterik kann süchtig machen:Die Orakel-Junkies

Sie suchen den geeigneten Job mit einem Pendel oder die Lösung ihrer Ehekrise in den Tarot-Karten - und werden abhängig davon. Tausende Deutsche leiden an "Heilersucht".

Wolfgang Görl

Eines Tages hat sich Gerda Brink entschlossen, mehr zu tun, als nur schicksalsergeben auf das von den Tarotkarten verheißene Glück zu warten. Man könne den Lauf der Dinge positiv beeinflussen, hatte die Kartenlegerin gesagt, und jetzt, nach Monaten vergeblichen Hoffens, war Gerda Brink dazu bereit.

Esoterik kann süchtig machen: Lebenshilfe mit Karten: Das Geschäft mit der Esoterik boomt

Lebenshilfe mit Karten: Das Geschäft mit der Esoterik boomt

(Foto: Foto: dpa)

800 Euro würde das "Partnerschaftsritual" kosten, eine Menge Geld für die alleinstehende Frau. Aber was ist das gegen die Aussicht, nein: die Gewissheit, nach einer gescheiterten Beziehung wieder einen liebenden Mann an der Seite zu haben? Die Kartenlegerin wollte Bargeld sehen, den gesamten Betrag vorab auf die Hand. Eine Quittung gab es nicht. Gerda Brink hat bezahlt.

Und sie hat ein zweites Mal bezahlt, wieder 800 Euro, nachdem das erste Ritual nichts bewirkt hatte. Aber was war das für ein Ritual? Frau Brink weiß es nicht. Sie war nicht dabei. Ob die Kartenlegerin Rosenblätter gestreut oder Beschwörungsformeln gewispert hat, ob sich ihr Liebeszauber darauf beschränkte, das Geld zur Bank zu tragen - Gerda Brink vermag es nicht zu sagen.

Klar ist nur: Es hat nichts geholfen. Genauso wenig wie es was gebracht hatte, die Karten zu befragen, die Zukunft auszupendeln oder eine Spezialtinte zu erwerben, mit der man Wünsche auf ein Spezialpergament schreibt, das unter eine Spezialkerze gelegt wird, benetzt mit einem Spezialöl.

Als sie einen neuen Job suchte, konnte Frau Brink nicht anders, als zwei Berufsrituale in Auftrag zu geben - auch die ohne Erfolg. Das Pendel kam bei der Arbeitssuche erneut zum Einsatz. Die Hexenmeisterin schwenkte es über Stellenanzeigen, und wo es anschlug, bewarb sich Brink. Sie bekam keine einzige positive Antwort.

In der Warteschleife der Hoffnung

Doch nach jedem Ritual keimten Hoffnungen auf: Diesmal würde es klappen. Bald würde es vorbei sein mit der Einsamkeit, am Horizont dämmerte Morgenlicht. Tatsächlich aber blieb es dunkel, "und nach jeder Enttäuschung ging es seelisch ein Stück runter in den Keller". Man brauche Geduld, sagte die Kartenlegerin.

Gerda Brink glaubte das. Sie wollte es glauben. Die Kartenlegerin hatte sie in ihren Bann gezogen, "es war wie eine Sucht". Zwei-, dreimal pro Woche ist sie in deren Esoterikladen gerannt, ungezählt sind die Anrufe, um das Orakel zu befragen. Mehr als drei Jahre ging das so. Es war ein Wechselspiel zwischen Hoffnung und Enttäuschung, ein Auf und Ab, das sie nicht losließ, das täglich ihre Gedanken und Gefühle besetzte, das sie begehrte wie der Junkie den Stoff. Etwa 4000 Euro hatte sie in den Laden getragen, aber nur ganz langsam kam die Erkenntnis, "dass es nichts nützt".

Wer Gerda Brink gegenübersitzt, hat nicht den Eindruck, es handle sich um eine naive Frau. Sie ist 41 Jahre alt, gelernte Kauffrau, und hatte, bis sie eines Tages beim ziellosen Umherspazieren in Schwabing den Esoterikladen betrat, nichts mit Okkultismus zu tun. Bis heute kann sie sich nicht erklären, "warum ich immer wieder dorthin bin".

Die Orakel-Junkies

Gerne hätte sie mit jemanden darüber geredet, nur war da niemand, dem sie sich anvertrauen konnte. Und wenn es einen gegeben hätte: Was hätte sie sagen sollen? Dass sie von einer Hellseherin abhängig war? Dass sie mit Ritualen den Mann fürs Leben herbeizuzaubern versuchte? Dass sie ihre Jobsuche mit allerlei Hokuspokus betrieb? Zu groß war die Scham, dies zu offenbaren, zumal sie das Gefühl hatte, der einzige Mensch zu sein, der in ein derartiges Schlamassel geraten ist.

Das änderte sich, als sie erfuhr, dass es in München eine Telefonhotline gibt für Menschen, die abhängig sind von Astrologen, Kartenlegern und dergleichen. Sie hat angerufen, hat ihre Not geschildert, die auch finanziell ruinöse Ausmaße annahm.

"Das ist für viele ein Riesenschritt", sagt Christoph Teich, der Leiter des Beratungszentrums für Suchtgefährdete "Tal19". "Heilersucht" nennt Teich den exzessiven Orakelkonsum. Wer daran leidet, fühle sich als Versager, als lächerliche Figur. Deshalb haben Gerda Brink und zwei weitere Opfer der Heilersucht gebeten, in der Zeitung nur mit geänderten Namen zu erscheinen.

Verschuldung treibt die Menschen in die Suchtberatung

Ein Süchtiger, sagt Teich, offenbart sich erst, wenn der Leidensdruck unerträglich wird. Im Falle der Heilersucht sei es meist die Verschuldung, die die Menschen veranlasse, professionelle Hilfe zu suchen. Bei der Münchner Suchtberatung haben sich 2006 etwa 90 Personen gemeldet, die einem spirituellen Medium verfallen waren.

Wie viele Menschen insgesamt in Deutschland derartige Symptome aufweisen, wagt indes kein Experte zu schätzen. Dass es etliche tausend sein müssen, lässt sich aus den Erfahrungen der parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg schließen. Drei- bis viermal pro Woche hat es die Sozialpädagogin Frauke Zahradnik dort mit Opfern der Heilersucht zu tun. Meist sind es Frauen mittleren Alters. Sie hatten esoterische Berater konsultiert, weil es familiäre Konflikte gab, weil der Mann sie verlassen wollte oder eine Geliebte hatte, oder weil sie wissen wollten, ob der neue Partner der richtige sei. Vereinzelt ging es um Ärger in der Arbeit oder um finanzielle Krisen.

Die Freiburger Beratungsstelle kümmert sich um diverse Facetten des Okkultismus. Zahradnik zufolge verläuft der Trend, bei Hexen und Schamanen Rat zu suchen, durch alle Gesellschaftsschichten.

Die Anbieter "füllen eine Marktlücke für Menschen, die in einer Notlage sind". An wen sollten sie sich sonst wenden? An die Telefonseelsorge, den Arzt, den Psychiater? Man fühlt sich ja nicht krank. An Freunde, Verwandte? "Kaum einer nimmt sich Zeit, dem anderen zuzuhören", sagt Frauke Zahradnik. Dass die Branche von der Anonymität großstädtischen Lebens profitiert, gibt auch Winfried Noé zu, dank Funk und Fernsehen so etwas wie der Astrologe der Nation: Esoterische Lebensberatung "ist für viele ein Ersatz für den Treppenhausratsch oder das Gespräch in der Familie".

Auch Ingrid Weber, 42, litt unter Einsamkeit. "Mein Mann hat angefangen, mich einzusperren." Den ersten Berater hat sie persönlich aufgesucht, später ging sie dazu über, telefonisch Kartenleger zu befragen. Das liegt schon deshalb nahe, weil man auf dem Markt esoterischer Praktiken zwangsläufig auf die Telefon-Orakel stößt.

Egal, ob man in Magazinen blättert, TV-Programme zappt oder im Internet surft: Überall bieten Menschen mit angeblich übersinnlichen Fähigkeiten ihre Dienste an. Also hat Frau Weber angerufen, hat ausgeharrt in Warteschleifen, hat sich hinhalten lassen oder endlose Gespräche geführt, und als die erste Rechnung kam, war sie ein paar hundert Euro los.

Ringen um Abstinenz

"Sie versuchen, einen abhängig zu machen." Oft hätten die Gespräche mit der Aufforderung geendet, bald wieder anzurufen. Das hätten sie Ingrid Weber nicht zu sagen brauchen. Sie griff von selbst zum Hörer. Am Morgen hatte sie sich vorgenommen, abstinent zu bleiben, am Abend jedoch, der Mann war in der Arbeit, "kam die Stille, ich war einsam und rief wieder an". Einmal, fünfmal, zehnmal.

Dann begann das Ritual: "Man soll etwas von sich erzählen, es gibt ein paar Fragen, endlich sagen sie ,Ich mische jetzt die Karten, ich lege sie aus', und schon sind Sie zehn Minuten in der Leitung." Bei 1,99 Euro pro Minute kommt einiges zusammen, und am Ende des Monats hatte Ingrid Weber tausend Euro vertelefoniert. Unglücklich war sie noch immer.

Die Orakel-Junkies

Marktführer auf dem multimedialen Esoteriksektor ist die Berliner Questico AG. Das im Jahr 2000 gegründete Unternehmen, das zu den am schnellsten wachsenden Firmen in Deutschland gehört, hat es in Kürze geschafft, mit einem Komplettprogramm für spirituelle Lebensberatung aufzuwarten. Zur Unternehmensgruppe gehören der Sender Astro TV, das Monatsmagazin Zukunftsblick sowie der astrologische Rundumservice "Noé Astro", mit dem Winfried Noé unter der Flagge von Questico segelt.

Das große Geld aber kommt mit der telefonischen Lebensberatung herein. Die "Questico-Experten" bieten im Internet alles an, was man früher von Hexen und Magiern zu erhalten hoffte: Horoskope, Kartenlegen, Hellsehen, Kaffeesatzlesen, Engelkontakte, Karma-Astrologie und so weiter.

Das erste Gespräche ist kostenlos, für die weiteren werden Gebühren fällig, in der Regel zwischen ein und zwei Euro pro Minute. 35 Cent kassiert Questico, der Rest bleibt bei den meist nebenberuflichen Hexen und Schamanen. 45 Millionen Umsatz erwirtschaftete das Unternehmen 2005. Im folgenden Jahr sollen es bereits 60 Millionen gewesen sein, was die Firma aber nicht bestätigt.

Auf den Internetseiten von Questico preisen 2500 Frauen und Männer ihre paranormalen Fähigkeiten an, mit Foto, bürgerlichem Namen und Lebenslauf. Ob Koch, Bankkauffrau oder Kosmetikerin, ob Spross einer Kartenlegerdynastie oder PC-Netzwerkadministrator - alle behaupten, einen Draht in übersinnliche Sphären zu haben.

Deutschland ist voller Propheten

Offenbar ist das Land voller Propheten, und wer Questico fragt, ob sie selbst daran glauben, erhält von Firmensprecherin Martina Wagner die Antwort: "Darum geht es gar nicht. Wir bieten ein Portal, auf dem wir esoterische Lebensberatung vermitteln. Die Frage ist nicht, ob wir daran glauben, sondern ob es hilft. Und es scheint zu funktionieren, sonst würden die Leute nicht immer wieder anrufen." Mehrere Hunderttausend seien als Kunden registriert.

Der Wiesbadener Anwalt Mark Schmidt, der sich in der "Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften" engagiert, hält Firmen wie Questico für "ein ideales Geschäftsmodell, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Geld von Verzweifelten in Notsituationen zu nehmen, dafür keine verlässliche Gegenleistung zu bieten und keine Verantwortung für Ihre Leistung zu übernehmen".

In der Tat heißt es in den Geschäftsbedingungen: "Questico steht weder für Richtigkeit noch Qualität der erteilten Auskünfte ein." Überhaupt sei es schwierig, gegen die Seher zu klagen, weil sie ihre Leistung meist als Lebensberatung anböten. "Und Lebensberatung ist erlaubt", sagt Schmidt. Eindeutig sei die juristische Lage, wenn ein Medium in Aussicht stelle, per Ritual den Verflossenen zurückzuholen. "Rechtlich ist klar geregelt, dass Verträge, die sich auf eine unmögliche Leistung richten, unwirksam sind." Magische Handlungen wie Liebeszauber zählten der Rechtsprechung zufolge zu den unmöglichen Leistungen. Gerda Brink könnte ihre Kartenlegerin verklagen - wenn sie eine Quittung hätte.

Die Parapsychologie-Expertin Zahradnik sagt, sie würde Questico am ehesten mit Glücksspielautomaten vergleichen. "Wenn man das ab und zu betreibt, ist nichts dagegen einzuwenden. Es gibt halt ein Risikopotenzial." Wie den Spieler, der ungeachtet des drohenden Ruins weitermachen muss, treibt es den Orakel-Junkie immer wieder ans Telefon.

Problematisch seien die Esoterik-Portale aber auch, weil da Menschen Hilfe suchten, die eigentlich einen Psychologen bräuchten. "Das erkennen zu können, spreche ich den Mitarbeitern von Questico ab", sagt Zahradnik.

Questico-Sprecherin Martina Wagner sieht das anders. "Unsere Leute müssen einen Ausbildungsnachweis vorlegen. Sie müssen nachweisen, dass sie mindestens ein halbes Jahr im beraterischen Bereich gewerblich tätig waren, und sie werden geprüft, ob sie im Umgang mit Menschen geschult sind." Der entscheidende Maßstab aber sei der Kunde. Er kann das Gespräch bewerten, fünf Sterne sind die Bestnote, und zudem kann er Kommentare ins Online-Stammbuch des Beraters schreiben.

Am Wühltisch der Wahrsager

Winfried Noé ist Gesellschafter bei Questico, und als solcher kassiert er mit, wenn der Laden läuft. Man könne, sagt er, Questico nicht verantwortlich machen, wenn Leute süchtig würden. Questico sei lediglich ein Einkaufsladen: "Da gibt's was am Grabbeltisch, und es gibt Mode von Daniel Hechter." Gewiss, die meisten Questico-Berater "legen Karten oder machen Rauchzeichen oder sonst was", das sei seine Sache nicht; aber es gebe auch solche, die seine Astrologieschule absolviert hätten, und die seien qualifiziert: "Jeder bekommt den Berater, den er verdient."

Dabei lässt Noé durchblicken, dass bei Questico mehr Wühltische als Daniel-Hechter-Modelle zu finden sind, was der Sterndeuter, der für eine persönliche Beratung 370 Euro nimmt, wiederum in einem Gleichnis vorträgt: "Meine Klientel ist Salzburger Festspiele, bei Questico ist auch viel Unterschicht dabei."

Und bei der Unterschicht sei die Gefahr größer, am Spielautomaten oder bei einem Berater hängen zu bleiben. Abhängigkeit sei nun mal eine Folge von "Ich-Schwäche". Er, Noé, versuche immer, den Selbstwert aufzubauen. Aber manchmal scheitert selbst er, wie ein Beispiel aus der Festspiel-Loge zeigt: "Ich hatte eine berühmte Schauspielerin als Klientin, die sogar angerufen hat, ob sie auf die Straße gehen solle. Da hab' ich gesagt, tut mir leid, ich muss die Beratung abbrechen."

Als Carola Becker, 42, die erste Gratisberatung bei Questico hinter sich hatte, war sie angenehm überrascht. Seit Jahren war die Sekretärin in eine unstete Liebesaffäre verwickelt, und da war es gut zu hören, zwischen ihr und dem Mann bestehe eine "karmische Verbindung". Und noch etwas überzeugte sie: "Die Astrologin hat viel von mir gewusst."

Ein Wunder sei das nicht, meint Frauke Zahradnik. "Man hat erforscht, dass Hellseher und Kunde die Vergangenheit sozusagen gemeinsam bauen." Wenn ein Hellseher über gute Intuition verfüge, falle es ihm leicht, dem Kunden diskret Informationen zu entlocken oder aus dessen Verhalten Schlüsse zu ziehen. Die Leute sind erstaunt, was der Seher über sie weiß, und folgern: Wenn er meine Vergangenheit kennt, kennt er auch meine Zukunft.

Carola Becker dachte auch so. Sie war froh, endlich Leute an der Strippe zu haben, die ihr zuhörten. Davon konnte sie nicht genug kriegen, sie sammelte buchstäblich Prophezeiungen. Meist besagten sie: "Der Mann liebt Sie, sie kommen wieder zusammen." Das war der Stoff, um durchzuhalten. Nur brauchte sie immer mehr davon.

Anfangs hatte sie einmal im Monat angerufen, später mehrmals täglich. "Ich habe angefangen zu zittern, wenn ich keine Beratung hatte." Eines Tages hatte sie ihr Konto so überzogen, dass die Bank nichts mehr ausbezahlte. Irgendwann konnte sich Carola Becker nichts mehr vormachen. "Mir war klar, dass ich süchtig bin." So rief sie die Münchner Suchthotline an. Das war im Februar. Im April hat sie letztmals ein Orakel befragt. "Mittlerweile brauche ich es nicht mehr." Ob es dabei bleibt? "Ich hoffe es."

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