Erdbeben in Nepal:Das Wunder von Gongabu

8000 Tote, Millionen Obdachlose - gibt es überhaupt irgendetwas Positives zu berichten, aus dem Katastrophengebiet in Nepal? Die Geschichte des 15 Jahre alten Pemba Thamang und seiner Rettung.

Von Stefan Klein

Hallo, hallo, ist da jemand? Wenn du mich hörst, dann rufe! Rufe laut oder klopf fünfmal auf etwas Festes!" Für Polizeiinspektor Laxman Bahadur Basnet, 31, war der Ruf Routine. Es war der sechste Tag nach dem Erdbeben, mit Lebenden unter den Trümmern in Kathmandu war nicht mehr zu rechnen. Er war mit den Mitgliedern einer Rettungseinheit im Stadtteil Gongabu angerückt, um in den Schuttbergen aufzuräumen. Aber man weiß ja nie, Wunder soll es geben, also formte Inspektor Basnet vor seinem Mund die Hände zu einem Trichter und rief. Und rief noch mal.

Das Echo war schwach: "Hier, hier, ich bin hier." Basnet wollte es zunächst nicht glauben. Hatte er sich verhört? War es ein sehr dummer Jungenstreich? Ruhe, signalisierte er seinen Männern, Bulldozer ausschalten. Dann rief er in die Stille: "Hey, hey, wo bist du? Ruf noch mal." Die Antwort kam prompt: "Hier bin ich, Bruder, hilf mir." Basnet war seit sechs Tagen im Einsatz. Er hatte Menschen gerettet, Leichen geborgen, Erfahrungen gesammelt. Er hatte gelernt, von Stimmen auf den Standort zu schließen. Er sah sich um im Trümmerfeld und sagte sich: Dieser Mensch muss da irgendwo tief unten sein.

Dies ist die Geschichte einer Rettung. Sie hat einen Helden und einen, den man als den Glücklichen bezeichnen könnte, nur dass der Glückliche gar nicht so aussieht. Aber das kann auch daran liegen, dass er es nicht gewohnt ist, Auskunft zu geben über sich und schon gar nicht über seine Gefühle. Er hat noch nie in seinem Leben irgendwo im Mittelpunkt gestanden, vermutlich hat sich noch nie jemand besonders für ihn interessiert. Leben hieß: mal hierhin geschubst zu werden, mal dahin, Geld zu verdienen so früh wie möglich. So hätte es weitergehen können mit dem Jungen Pemba Thamang, 15 Jahre, aber dann kam dieser Samstag im April, und auf einmal war alles anders.

Inspektor Basnet ließ Schutt wegschaffen, wo er den Überlebenden vermutete. Er lag richtig. Beim Beben waren offenbar zwei Betonplatten aufeinandergefallen und hatten ein Motorrad und einen eisernen Rollladen zwischen sich eingeklemmt. Auf diese Weise war ein schmaler Spalt entstanden, ein kleiner Raum auch für einen schmächtigen Jungenkörper, aber so schmal, dass Basnet seinen Schutzhelm abnehmen musste, als er dort hineinzukriechen begann. "Hey, Junge, wo bist du?" Die Antwort kam aus der Nähe, es schienen nur noch ein paar Meter zu sein, aber Basnet kam nicht weiter voran. Das Motorrad und der Rollladen blockierten den Weg.

Erdbeben in Nepal: "Hier, hier, ich bin hier." Pemba Thamang wurde am sechsten Tag des Erdbebens aus den Trümmern des zerstörten Hauses in Kathmandu geborgen.

"Hier, hier, ich bin hier." Pemba Thamang wurde am sechsten Tag des Erdbebens aus den Trümmern des zerstörten Hauses in Kathmandu geborgen.

(Foto: Prakash Luitel)

Für den Jungen Pemba hatte der Tag begonnen wie so viele andere. Sein Job war es, am nahen Bus-Terminal Passagiere in das Hotel "Bhumeshwari" zu lotsen, eine billige Absteige, für die er arbeitete. Samstagmittag aber war Pause, Pemba saß im ersten Stock in der Küche und aß, als die Welt um ihn herum zu schwanken begann. Er machte das einzig Richtige, er rannte die Treppe hinunter, er wollte raus aus dem Gebäude, aber dann fiel etwas Schweres auf ihn, er spürte einen Schmerz am Kopf, und dann spürte er nichts mehr. Als er aufwachte aus seiner Ohnmacht, war es schwarz um ihn herum, schwarze Nacht, und so sollte es bleiben, sechs Tage und fünf Nächte lang.

Kann man sich das vorstellen, begraben bei lebendigem Leib? Pemba hat um Hilfe gerufen, er hat sich schier die Lunge aus dem Hals geschrien, und am Anfang meinte er noch, irgendwo Stimmen zu hören, ganz schwach, aber danach war nur noch Stille. Grabesstille. Er konnte nicht stehen, er konnte nicht knien, er konnte nur flach auf dem Boden liegen. Lediglich zu den Seiten hin hatte er etwas Bewegungsfreiheit, vielleicht ein, zwei Meter. Einmal ertastete er im Dunkeln einen Behälter. Darin war Ghee, das in diesen Breiten gebräuchliche Butterschmalz. Das gilt als gesund, aber der Junge in seinem Zustand erbrach es gleich wieder.

Er fand auch etwas Feuchtes in einem Plastikbehälter, daran hat er gesaugt, um Lippen und Mund zu befeuchten. Es war wohl ein Erfrischungstuch, womit man sich normalerweise das Gesicht oder die Hände wischt. Der Hunger kam, aber irgendwann war an der Stelle, wo der Magen ist, nur noch etwas Hartes, und Pemba spürte den Hunger nicht mehr. Es ist nicht leicht, Pemba nach diesen Dingen zu fragen, und wenn der Vater nicht dabei säße, den rechten Arm um die Schulter seines Sohnes gelegt, dann hätte es vermutlich gar keinen Zweck. Klar ist: Man muss es ganz kurz halten, dieses Gespräch, man darf den Jungen nicht zurückführen in das Dunkel, aus dem er kommt. Das verlangt dieses ernste, verschlossene Kindergesicht, das nicht lacht, nicht lächelt. Nicht einmal. Das verlangt diese harte Stimme, die nicht passen will zu der zierlichen Gestalt.

Inspektor Basnet aber redet und redet. Man sitzt irgendwo am Straßenrand, der Mann ist ja immer noch im Einsatz, gerade erst hat er wieder eine Leiche geborgen, er redet laut, eine Gruppe von Menschen bildet einen Kreis um ihn, alle wollen die Geschichte dieses Retters hören, der aber nicht gleich retten konnte, weil dieses verdammte Motorrad und dieser in sich verdrehte eiserne Rollladen im Weg waren. Basnet war schon so nah dran an dem Jungen, er konnte im Kegel seiner Taschenlampe sein Gesicht sehen, aber er kam nicht hin. Immerhin, eine Flasche Wasser konnte er hinüberschleudern zu ihm. "Mach nur die Lippen nass, Junge," rief er, "nicht trinken."

Erdbeben in Nepal: Der 15-Jährige mit seinem Retter Laxman Bahadur Basnet.

Der 15-Jährige mit seinem Retter Laxman Bahadur Basnet.

(Foto: Prakash Luitel)

Es wurde ein mehrstündiger Kampf. Basnet arbeitete mit einer Metallsäge, mit einem hydraulischen Wagenheber, er hatte ja selber kaum Platz, er lag, genau wie der Junge, flach auf dem Bauch. Sein Werkzeug konnte er nur mit einer Hand halten, er bekam Krämpfe, das erste Sägeblatt riss, das zweite auch. Basnet fühlte sich, als würde er gleich ersticken, aber er hatte den Willen, diesen Jungen herauszuholen aus seiner Falle. Und langsam schuf er sich den Platz, den er brauchte. "Ruhig, Junge, keine Sorge, gleich bin ich bei dir und hole dich raus." Pemba solle sich umdrehen, und dann würde er, Basnet, ihn an den Schultern herausziehen.

Und so geschah es. Die Männer draußen zogen Basnet an den Füßen, und Basnet zog Pemba an den Schultern, bis sie beide draußen waren im gleißenden Licht und inmitten einer großen, gaffenden Menge. Für den Jungen, der aus der Finsternis kam, war das alles viel zu viel. Er erbrach das Wasser, das er offenbar doch getrunken hatte, ein Notarzt legte ihm eine Infusion mit einer isotonischen Lösung, dann schaffte man ihn weg in ein Krankenhaus, und die Menschen stürzten sich auf den Retter und trugen ihn im Triumphzug auf ihren Schultern. Nach Tagen des Schreckens endlich wieder mal ein Moment der Freude.

Pemba ist ein kleiner Kerl, man würde ihn deutlich jünger schätzen als fünfzehn. An seinem linken Unterarm hat er eine Tätowierung, die den Hindu-Gott Shiva darstellt, eine mächtige Gottheit, zuständig für Zerstörung, Schöpfung, Neubeginn. Irgendwie scheint das zu passen, selbst wenn man wie dieser Junge Pemba aus einer buddhistischen Familie kommt. Vielleicht braucht es in so einer verzweifelten Situation ja die doppelte Packung Religion - oder was hätte es sonst sein können? Glück? Zufall? Karma? Pemba sagt, er habe gebetet in seinem dunklen Verlies.

Später, das Gespräch ist lange zu Ende, sieht man ihn zufällig noch einmal wieder, und zwar im Stadtteil Gongabu ganz in der Nähe des Ortes, an dem er sechs Tage lang gefangen war. Große Teile Kathmandus wirken ja zumindest äußerlich so, als hätte das Erdbeben den Häusern nichts anhaben können. Aber im Stadtteil Gongabu sieht es an manchen Stellen aus wie in München nach dem Zweiten Weltkrieg. Da also sieht man den Jungen plötzlich wieder. Man sieht, wie er einen Freund begrüßt, wie sie sich in die Arme fallen und: wie Pemba lacht.

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