Erdbeben in Italien:Wenigstens Giorgia

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Seltener Glücksmoment: Helfer tragen einen Überlebenden des verheerenden Erdbebens in Amatrice aus den Trümmern. (Foto: Emilio Fraile/AP)

Italien diskutiert über die erdrückenden Folgen des Erdbebens - während die Retter jeden Überlebenden wie ein Wunder feiern.

Von Oliver Meiler, Rom

Nach und nach werden die persönlichen Schicksale des verheerenden Bebens in Italien bekannt, die traurigen Geschichten von Menschen, die in einer Sommernacht aus dem Leben gerissen wurden, die Familientragödien, die Trauer um viele kleine Kinder. Und so sind die wenigen Glücksmomente, die es bei der Suche nach Überlebenden unter den Schuttbergen in Amatrice und Accumoli, in Arquata und Pescara del Tronto auch Stunden nach dem Unglück noch gibt, umso berührender.

Zum Beispiel die Rettung von Giorgia, einem vierjährigen Mädchen, das mit seiner Familie im kleinen Dorf Pescara del Tronto in den Marken im Urlaub war. Das Ferienhaus wurde fast vollständig zerstört. Die Eltern überlebten, Giorgia und ihrer achtjährige Schwester Giulia aber wurden verschüttet, scheinbar hoffnungslos. Ein Spürhund wies den Helfern den Weg zu einer zwei Meter dicken Trümmerdecke, unter der er Leben ausgemacht hatte. Zunächst fanden die Retter eine Plüschpuppe, dann griffen sie nach einem Bein - es war das kalte Bein der toten Giulia. Unter Giulia aber lag Giorgia, geschützt von deren Körper. Sie stöhnte leise, den Mund hatte sie voller Erde. Als man sie aus dem Loch zog, sagte sie nur: "Ich bin Giorgia." Das italienische Staatsfernsehen interviewte den Vater der Mädchen, der immer wieder sagte, er danke Gott, dass er ihm wenigstens ein Kind gelassen habe: wenigstens Giorgia.

Auch am dritten Tag nach dem Beben vom 24. August, das mindestens 278 Todesopfer gefordert hat, wurde die Region rund um das Epizentrum von immer neuen Erdstößen erschüttert. Fast tausend Nachbeben gab es bereits. Die Geophysiker erklären in den Medien, es sei normal, dass die Erde nach einem großen Erdstoß eine Weile weiterbebe. Sie nennen es einen "Erdbebenschwarm", und der könne einige Stunden, einige Tage oder auch mehrere Jahre dauern. Etwas außergewöhnlich sei allenfalls, dass es so viele Beben in so kurzer Zeit gegeben habe.

Manchmal sind sie so stark, dass man sie auch im fernen Rom spürt. Am Freitagmorgen etwa erreichte ein Beben die Stärke von 4,8 auf der Richterskala. In Amatrice musste danach der Ponte a Tre Occhi, die wichtigste Brücke auf dem Weg ins Dorf, gesperrt werden. Die Risse sind so bedrohlich breit, dass man einen baldigen Einsturz befürchtet. Bisher benutzten die meisten großen Fahrzeuge der Feuerwehr, des Zivilschutzes und des Roten Kreuzes diese Brücke, nun gibt es nur noch einen, deutlich komplizierteren Zugang zum Dorf. Die Sporthalle von Amatrice, in der viele Obdachlose untergebracht waren, wurde inzwischen evakuiert.

In Rom wird bereits über Ideen debattiert, wie die Dörfer wiederaufgebaut werden könnten. In der Vergangenheit kam es nach Erdbeben allzu oft vor, dass die Menschen, die ihre Häuser verloren hatten, jahrelang in Provisorien lebten. Die Regierung von Premier Matteo Renzi gelobte nun, sie werde beim Wiederaufbau auf die Bürgermeister hören, weil die am besten wüssten, was ihre Bürger wünschten, und schnell agieren. Wenig wahrscheinlich ist es, dass sogenannte New Towns gebaut werden, neue Siedlungen mit Fertigbauten also, wie sie Berlusconi 2009 am Stadtrand von L' Aquila errichten ließ. Diesmal will man das alte Wesen der zerstörten Dörfer wieder herstellen. So wollen es offenbar auch die meisten Bewohner, doch das braucht Zeit. Was bis dahin mit den vielen Obdachlosen in der Bergregion passieren soll, ist unklar. Spätestens, wenn der Winter kommt, wird das Problem akut: Amatrice liegt 955 Meter über Meer.

Sogenannte "New Towns", wie sie 2009 gebaut wurden, wollen die Bewohner nicht

Noch viel größer ist die Herausforderung, der sich Renzi mit seinem langfristigen, noch nicht ausformulierten Plan "Casa Italia" stellen will - einem Großprojekt für die Sanierung des alten Immobilienparks und der wichtigsten Infrastrukturen im Land. Die Italiener, sagte der Premier, seien zwar immer gut, wenn es darum gehe, den Notfall zu meistern. Nun sei es aber endlich Zeit, dass man die "Logik des Notfalls" überwinde und eine "Kultur der Prävention" erlerne. "Ich weiß", räumte Renzi ein, "das ist ein Marathon."

Erdrückend teuer ist der Plan auch: Nach groben Schätzungen würde es ungefähr 300 Milliarden Euro kosten, wenn Italien all jene öffentlichen Gebäude und privaten Häuser in gefährdeten Regionen erdbebensicher machen würde, die es jetzt nicht sind. An diesem Samstag gibt es ein Staatsbegräbnis in Ascoli Piceno, zu dem auch Renzi kommen wird. Zudem wurde ein nationaler Trauertag ausgerufen, alle Fahnen an öffentlichen Gebäuden werden auf halbmast gesetzt.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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