Entführung in Cleveland:Nachbarn werfen Polizei Versagen vor

Lesezeit: 3 min

Hätte die Polizei Gina DeJesus, Amanda Berry und Michele Knight schon früher befreien können? (Foto: REUTERS)

Einen Tag nach der dramatischen Befreiung von drei Frauen aus einem Haus in Cleveland gerät die Polizei in die öffentliche Kritik. Nachbarn berichteten US-Medien, "merkwürdige Vorgänge" gemeldet zu haben - die Polizei sei den Hinweisen jedoch nicht nachgegangen.

Dass die Jalousien des Hauses in der 2207 Seymour Avenue stets heruntergelassen waren, wunderte jahrelang offenbar niemanden. Jetzt ist die Aufregung um das unscheinbare weiße Haus und die schrecklichen Vorgänge, die darin vermutet werden, groß. "Diese Mädchen waren buchstäblich in unserem Hinterhof eingesperrt", sagte Charlie Czorb zu Reportern. Der Nachbar ist immer noch fassungslos. Zu schrecklich ist für ihn die Vorstellung, dass drei Frauen zehn Jahre lang im Haus seines Nachbarn Ariel Castro gefangen waren - und niemand in dem dicht besiedelten Wohngebiet in Cleveland davon wusste.

Als sie vor etwa zehn Jahren zuletzt gesehen wurden, waren sie teils noch Teenagerinnen - am Montag sind die drei junge Frauen aus Castros Haus befreit worden. Eine von ihnen, die 27-jährige Amanda Berry, hat mittlerweile eine kleine Tochter, die sie in Gefangenschaft zur Welt brachte. Sie war es auch, die durch Schreie den Nachbar Charles Ramsey auf sich aufmerksam machte, der daraufhin die Tür eintrat und Berry so die Freiheit ermöglichte. Nach einem dramatischen Anruf bei der Polizei, befreiten die Beamten wenig später auch die anderen beiden Frauen.

Ramsey selbst hatte noch vor einigen Tagen mit dem 52-jährigen Hauptverdächtigen zusammen Zeit verbracht: "Ich habe mit dem Typ gegrillt! Wir haben Rippchen und was sonst noch gegessen und Salsa-Musik gehört!"

Ariel Castro sowie seine 50 und 54 Jahre alten Brüder Onil und Pedro stehen unter Verdacht und befinden sich mittlerweile in Polizeigewahrsam.

"Ich wusste nicht, dass da jemand lebte"

Juan Perez wohnt direkt nebenan, seit 22 Jahren: "Ich dachte, das Haus stünde leer", sagte er zum Sender NBC. "Ich wusste nicht mal, dass da jemand lebte." Vor ein paar Jahren, sagte Perez, habe er irgendwo einen Schrei gehört und die Polizei alarmiert, doch er wisse nicht, was daraus geworden sei. Andere Nachbarn beschrieben Castro als einen "freundlichen Mann".

Mittlerweile haben weitere Nachbarn US-Medien berichtet, dass sie mehrmals die Polizei aufgrund von "merkwürdigen Vorgängen" im Castro-Haus gerufen hätten. Sie berichteten, sie hätten Ende 2011 eine Frau und ein Kind gesehen, die von innen an ein Fenster getrommelt hätten. Doch als die Polizei gekommen sei, habe niemand geöffnet. Andere berichten davon, schreiende Frauen gehört zu haben. Häufig sei Castro morgens mit einem kleinen Mädchen spazieren gegangen. Lupe Collins, eine Nachbarin, sagte: "Jeder in der Nachbarschaft hat getan, was er konnte. Die Polizei hat ihren Job nicht gemacht."

Die Polizei von Cleveland weist diese Berichte zurück. In einem offiziellen Statement beharrt sie auf der Feststellung, nichts von Berichten gewusst zu haben, nach denen Nachbarn "nackte Frauen und Frauen in Ketten" auf dem Gelände gesehen haben wollen. "Wir haben bisher keinen einzigen Hinweis auf etwas Verdächtiges in dem Haus", hieß es von offizieller Seite.

In diesem Haus sollen die drei Frauen zehn Jahre lang gefangen gehalten worden sein.  (Foto: AP)

Castros Sohn berichtete als Journalist über den Fall

Castros Sohn Anthony arbeitet als Journalist bei einem Fernsehsender. Im Juni 2004 schrieb er über das Verschwinden von Gina DeJesus, eines der von seinem Vater entführten Mädchen:"Ihr Verschwinden hat die Nachbarschaft verändert", heißt es darin. Anthony Castro interviewte für den Artikel sogar Nancy Ruiz, die Mutter von Gina. "Die Leute achten jetzt auch auf die Kinder der anderen", sagte sie ihm. "Es ist eine Schande, dass mir eine solche Tragödie wiederfahren musste, um meine Nachbarn (und ihre Hilfsbereitschaft; Anm d. Red.) wirklich zu erkennen. Sie seien gesegnet, sie sind großartig." Castros Sohn berichtete Medien, einige Türen im Haus seines Vaters seien stets verschlossen gewesen. Auf die mutmaßlichen Taten seines Vater angesprochen, sagte der Sohn: "Wenn er das wirklich getan hat, verdient er es, für immer hinter Gittern zu sitzen."

Ariel Castro wohnte offenbar seit 1992 in der Seymour Avenue. Gerichtsakten zufolge wurde 1993 gegen ihn wegen häuslicher Gewalt ermittelt, der Fall verlief aber offenbar im Sande.

2004 stand er erneut im Fokus des polizeilichen Interesses: Wegen Entführung und Gefährdung von Kindern. So habe der damalige Schulbusfahrer einen Jungen für mehrere Stunden in seinem Bus eingesperrt und sei in der Zwischenzeit in einem Fastfood-Restaurant Essen gegangen. Später sei er mit dem Kind noch einige Zeit herumgefahren, bevor er es freigelassen habe. Polizisten seien nach dem Vorfall zum Haus des Mannes gefahren, ihnen hätte jedoch niemand die Tür geöffnet. Zu dem Zeitpunkt seien die drei entführten Frauen schon dort gefangen gehalten worden. 2012 war Castro als Schulbusfahrer gefeuert worden.

Das Haus der Eltern von Gina DeJesus ist mit Luftballons und Blumen dekoriert.  (Foto: AFP)

Viertes Mädchen bleibt verschwunden

Die Umstände der Entführung sind bis heute unklar - das FBI müsse die Frauen noch genau befragen, sagen die Behörden. Das Haus wurde zur Spurensicherung abgeriegelt.

Für Berrys Mutter kommt die glückliche Nachricht zu spät. Louwana Miller starb 2006 mit nur 44 Jahren an Krebs. Aber auch an Kummer, sagten Freunde und Bekannte der Familie US-Medien. Miller hatte nie die Hoffnung aufgeben wollen, ihre Tochter wiederzusehen, und suchte Hilfe bei Psychiatern und in Fernsehsendungen, in denen sie die Bevölkerung um Hilfe bei der Suche bat.

Von einem vierten Mädchen, das in der gleichen Gegend wie Amanda Berry, Michelle Knight und Gina DeJesus verschwunden ist, fehlt immer noch jede Spur: Ashley Summers war 14 Jahre alt, als sie zuletzt im Juli 2007 gesehen wurde.

© Süddeutsche.de/jst - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: