Ein Jahr nach dem Massaker von Newtown:Schock ohne Konsequenzen

First anniversary of Newton shooting

Am 14. Dezember 2012 richtete der 20 Jahre alte Adam Lanza ein Massaker an. Auch ein Jahr später ist die Trauer bei den Angehörigen noch groß.

(Foto: dpa)

20 Schulkinder und sechs Lehrerinnen starben vor einem Jahr bei dem Amoklauf von Newtown. US-Präsident Barack Obama versprach schärfere Gesetze gegen Waffen - doch die Lobby hat teilweise sogar das Gegenteil erreicht.

Von Nicolas Richter, Washington

Die Bewohner Newtowns bitten darum, dass man sie in Ruhe lässt an diesem Samstag. Sie möchten weder Satellitenschüsseln sehen, noch Reporter mit Mikrofonen. Die Stadtverwaltung hat Geschäfte und Kirchen aufgefordert, die Lastwagen und Kleinbusse der Fernsehsender von ihren Parkplätzen zu vertreiben. Auch wird die Stadt selbst keine Gedenkfeier ausrichten. Die Bewohner sagen, vor allem die Kinder hier hätten in den vergangenen zwölf Monaten schon genug Schock, Trauer und Drama erlebt.

Die 28 000 Einwohner des Städtchens Newtown im US-Staat Connecticut haben sich jüngst ohnehin im Detail mit dem beschäftigen müssen, was vor einem Jahr geschah. Die Behörden veröffentlichten die Notrufe von damals und eine Chronik des Massenmords am 14. Dezember 2012: wie der schwer bewaffnete, 20 Jahre alte Adam Lanza in der Sandy-Hook-Grundschule erschien, sechs Erwachsene erschoss und zwanzig Erstklässler. Selten sind bei Amerikas notorischen Schießereien so viele kleine Kinder gestorben. Selbst Präsident Barack Obama hatte Tränen in den Augen.

Am Jahrestag nun ist Newtown ein doppeltes Symbol. Erstens für Amerikas tödliche Waffenschwemme, vor der sich niemand in Sicherheit wähnen kann - nicht einmal in Grundschulen, die lange als besonders behütet galten. Zweitens haben die vergangenen zwölf Monate gezeigt, dass die USA unwillig oder unfähig sind, diese Waffenschwemme einzudämmen - selbst nach einem der schwersten Verbrechen ihrer Geschichte.

Amerikanische Medien ziehen in diesen Tagen Bilanz über die neueste Waffengesetzgebung. Ergebnis: Insgesamt wurde der Besitz von Schießgerät seit dem Amoklauf in Newtown nicht erschwert, sondern erleichtert. Das Magazin Frontline des öffentlichen Senders PBS hat landesweit 93 neue Gesetze gezählt, die das Waffenrecht liberalisieren, und nur 42, die es einschränken. Nach der Statistik der New York Times haben 70 neue Gesetze eine tolerantere Rechtslage geschaffen, 39 Gesetze eine restriktivere.

Obama zählt zu den Enttäuschten

Die unterschiedlichen Zahlen zeigen, dass die Rechtslage bei 50 Staaten nicht ganz übersichtlich ist. Die Regeln sind auch sehr verschieden; manche betreffen Waffenscheine, manche zielen auf das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit. Manchmal ist die Bilanz gemischt: Im Südstaat Alabama etwa kann man seine Waffe jetzt an mehr Orte mitnehmen als zuvor, andererseits werden psychisch kranke Waffenkäufer genauer beobachtet.

Doch insgesamt steht fest, dass Amerikas Waffengegner den kollektiven Schock nach Newtown nicht so nutzen konnten, wie sie es gehofft hatten. Zu den Enttäuschten gehört auch Präsident Obama. Er wollte die Bundesgesetze so verschärfen, dass Waffenkäufer künftig landesweit auf Vorstrafen oder psychische Krankheiten überprüft würden.

Aber der Gesetzentwurf scheiterte im April bereits im US-Senat, obwohl Obamas Demokraten dort die Mehrheit stellen. Es war eine der bittersten Niederlagen für den Präsidenten, und er erklärte sie so: Die Waffenlobby habe Lügen verbreitet, habe Schreckensbilder gemalt vom Überwachungsstaat. Einige Waffenbesitzer seien erschrocken und hätten ihre Senatoren eingeschüchtert, die alsbald eingeknickt seien. So ging ein Gesetz zugrunde, das laut Umfragen 90 Prozent der Amerikaner prinzipiell befürwortet hatten.

"Unsere Herzen sind gebrochen. Unser Wille ist es nicht."

Der Vater eines Sandy-Hook-Opfers sagte damals: "Unsere Herzen sind gebrochen. Unser Wille ist es nicht." Auch in dieser Woche vor dem Jahrestag sind Angehörige und Freunde der Toten wieder nach Washington gefahren, um zu erinnern und zu mahnen. Aber nach Lage der Dinge werden sie auch diesmal politisch nicht viel erreichen können.

In den USA gibt es so viele Schusswaffen wie Einwohner, und in weiten Teilen des Landes herrschen noch immer enorme Vorbehalte gegen Waffengesetze, besonders unter Republikanern. Viele Menschen empfinden Waffen als notwendig, um sich zu verteidigen, weil sie der Polizei nicht trauen. Manche glauben sogar, sie müssten im Notfall staatliche Übergriffe abwehren können.

Die Mensch-Waffe-Beziehung ist emotional: Pistolen und Kriegswaffen stehen für Freiheit, Kultur, Tradition, Lebensart und Selbständigkeit. Nach Newtown dachten Reformbefürworter wie Obama, das Land habe einen Wendepunkt erreicht. Aber die Waffenlobby hatte wie immer mehr Geld, mehr Einfluss, die geschicktere Taktik, die langfristigere Strategie. Der Lobbyist Wayne LaPierre von der National Rifle Association verlangte sogar, die Schulen aufzurüsten: "Der Einzige, der einen bösen Kerl mit einer Pistole stoppen kann, ist ein guter Kerl mit einer Pistole."

Waffengegner können nur auf langfristige Trends hoffen. Zwischen 1977 und 2012 zum Beispiel hat die Zahl der Haushalte mit einer oder mehreren Waffen um 36 Prozent abgenommen. Offenbar scheint die Begeisterung für Waffen unter der jüngeren Generation nachzulassen. Die NRA versucht, diese Entwicklung aufzuhalten, indem sie bewusst um Kinder wirbt.

Das Motiv bleibt unklar

Im Fall des jungen Adam Lanza hätten vermutlich auch strengere Gesetze nicht geholfen. Die letzten Monate seines Lebens verbrachte er zurückgezogen im Haus seiner Mutter; mit ihr verständigte er sich nur noch per Mail, obwohl ihre Schlafzimmer auf demselben Stockwerk lagen. Die einzige gemeinsame Unternehmung der beiden bestand darin, einen Schießstand zu besuchen. Lanza hat seine Waffen nicht selbst gekauft, er bekam sie von seiner Mutter. Er wäre damit selbst für strengere staatliche Kontrollen unerreichbar gewesen.

Das Motiv des Jungen wird vermutlich unklar bleiben: Seine Mutter, die einzige Zeugin seiner letzten Lebensmonate, erschoss er im Bett, bevor er sich zur Sandy-Hook-Schule aufmachte, die er als Kind kurz besucht hatte. Vermutlich wird man nie erfahren, warum er gerade diese Schule auswählte.

Damit die Erinnerung nicht immer wieder zurückkehrt, hat die Stadt Newtown die Sandy-Hook-Schule inzwischen abgerissen. Selbst die Trümmer sollten nicht verewigt werden, weder in Schaukästen, noch auf Fotos. Die Stahlträger, die das Gebäude zusammenhielten, als dort Wehrlose starben, wurden eingeschmolzen.

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