Dutroux-Prozess:Sich nicht von "Hass, Bosheit oder Zuneigung" leiten lassen

Im Prozess gegen den mutmaßlichen belgischen Kindermörder Marc Dutroux wurden die zwölf Geschworene ausgewählt - der Angeklagte schien sich dabei zu langweilen.

Von Cornelia Bolesch

Ein strahlend blauer Himmel spannt sich über den Ardennen. Es ist kalt, aber sonnig. Und nicht nur das Wetter meint es gut mit der Stadt, die sich vor diesem ersten Tag im Prozess gegen Marc Dutroux ein bisschen gefürchtet hatte.

Dutroux-Prozess: Die Angeklagten: Von links: Michel Nihoul, Michel Lelievre, Dutrouxs Exfrau Michelle Martin und Marc Dutroux (mit schwarzen Balken, da er darauf bestand nicht fotografiert zu werden).

Die Angeklagten: Von links: Michel Nihoul, Michel Lelievre, Dutrouxs Exfrau Michelle Martin und Marc Dutroux (mit schwarzen Balken, da er darauf bestand nicht fotografiert zu werden).

(Foto: Foto: dpa)

Die Eltern eines der ermordeten Mädchen, die zum Prozess angereist sind, hatten sich aus Angst vor dem Andrang gar von den Behörden in eine Kaserne einquartieren lassen. Aber es sind nicht viele Neugierige gekommen.

Dafür belagern hunderte von Journalisten mit ihren Kameras das Gericht oder warten in langen Schlangen vor dem schwarz verglasten Gebäude. Polizisten mit Hunden oder zu Pferd patroullieren über das Gelände. Aber das Medien-Spektakel ist auf die Umgebung unmittelbar um das Gericht beschränkt.

Wenn in den nächsten zehn Wochen in dieser Stadt der größte Kriminalfall der belgischen Geschichte verhandelt wird, können die meisten Bürger von Arlon wohl in aller Ruhe weiter ihren Geschäften nachgehen. Das gilt allerdings nicht für die Leute einer bekannten Getränkefirma, die sich am Montag mit Werbeplakaten vor das Gericht gestellt hatten. Der Bürgermeister gab Anweisung, sie sofort zu vertreiben.

Hinter einer dicken Glasscheibe

Der Prozess gegen Marc Dutroux, seine Ex-Frau Michèlle Martin, seinen Komplicen Michel Lelièvre und den Brüsseler Finanzbetrüger Michel Nihoul beginnt mit dreiviertelstündiger Verspätung. Nihoul, der auf freiem Fuß ist, wartet bereits. Einer nach dem anderen nehmen auch die anderen Angeklagten ihre Plätze hinter der dicken Glasscheibe ein.

Kurz danach die erste Intervention von Marc Dutroux. Sein Anwalt Xavier Magnée teilt mit, dass sein Mandant "nicht fotografiert werden will". Dann blickt Richter Stéphane Goux den Angeklagten an: "Verstehen Sie mich?" - " Ja, ich verstehe Sie." - "Name?" - "Marc Dutroux." - "Alter?" - "47 Jahre" - "Beruf?" - "Ich habe keinen." - "Gegenwärtige Adresse?" - "Das Gefängnis von Arlon."

Tief und etwas verquollen klingt Marc Dutroux's Stimme. Niemand weiß, ob diese ersten Worte auch seine letzten in dem Prozess gewesen sind, in dem es um sechs entführte und zum Teil bis zum Tod gequälte Mädchen geht.

Fast scheint Dutroux gelangweilt: Bei der Auswahl der Geschworenen liegt sein Kopf meistens auf den Armen. Schließlich macht der Richter Dutroux's Anwalt auf das Dösen seines Mandanten aufmerksam; der greift sofort zum Telefon, um Dutroux hinter der Scheibe zu wecken.

"Herr Dutroux schläft nachts sehr schlecht"

"Herr Dutroux schläft nachts sehr schlecht. Da ist es normal, dass er sich - wenn im Saal keine taktisch wichtigen Dinge passieren - ein wenig erholt", sagt Magnée Journalisten später.

Am ersten Tag jedenfalls sind es nicht Dutroux und seine Mitangeklagten, die im Mittelpunkt stehen, sondern 180 Männer und Frauen aus der Provinz Luxemburg, die jetzt plötzlich alle in den kleinen Gerichtssaal drängen. Aus ihrer Mitte wird das zwölfköpfige Volksgericht bestimmt. Nicht die dreiköpfige professionelle Richterbank entscheidet über die Schuld der Angeklagten, sondern zwölf Geschworene.

In ihrer Haut möchten die meisten Belgier nicht stecken. Und auch etliche unter den Menschen, die jetzt auf ihre Auslosung als Geschworene warten, wollen von dieser Aufgabe nichts wissen. Viele kommen mit ärztlichen Attesten ("Augenprobleme"), um sich von der Bürde zu befreien.

Man kann es verstehen, denn für 35,16 Euro Tagegeld wird von den Geschworenen gerade in diesem Fall Unmögliches verlangt. Taten, die sie schon in- und auswendig kennen, werden noch einmal in allen grausamen Details aufgeblättert.

Dennoch müssen sie sich an diesem Tag vor dem Vorsitzenden Richter aufstellen und schwören, neben dem Interesse der Gesellschaft auch das "Interesse des Angeklagten nicht zu verletzen".

Sie müssen versprechen, sich "weder von Hass noch Bosheit, Furcht oder Zuneigung leiten zu lassen". Angesichts des Bösen baut man auf sie als "freie und anständige Menschen", die vor allem eines in den fensterlosen Gerichtssaal mitbringen sollen: Unparteilichkeit.

"Feind Nr.1 der belgischen Gesellschaft"

Doch wie soll das gehen angesichts eines Mannes, der von den Medien zum "Feind Nr.1 der belgischen Gesellschaft" erklärt wurde? Dessen Taten, die er selbst zum großen Teil gar nicht leugnet, das ganze Land an den Rand einer Staatskrise und die Bürger im Oktober 1996 zu Hunderttausenden zum legendären "Weißen Marsch" auf die Straße getrieben haben?

Es gibt keinen erwachsenen Menschen in Belgien, der sich zum Fall Dutroux nicht schon eine Meinung gebildet hätte. Ein "faires" Verfahren im strengen Sinn des Wortes wird es für Dutroux nicht geben. Zu Beginn der Geschworenen-Auswahl hat der Richter nur solche Bürger ausgesiebt, die einmal eine Petition zugunsten der Opfer unterschrieben hatten. Es war etwa ein Dutzend.

Die Situation könnte ein gefundenes Fressen sein für jeden Anwalt, der auf dem Klavier juristischer Formfehler zu spielen weiß. Dutroux's Anwalt Magnée - er hat die Federführung in einer Gruppe von inzwischen vier Advokaten - scheint an dieser Strategie aber kein Interesse zu haben.

Der silberhaarige Herr hat schon vor Prozessbeginn versichert, er sei zwar Spezialist für Berufungsverfahren beim Menschengerichtshof in Straßburg, doch ein "Verfahrensmaniak" sei er nicht. "Meinetwegen haben alle zwölf Geschworenen und ihre Stellvertreter am Weißen Marsch teilgenommen. Ich will loyal sein. Ich kämpfe mit offenem Visier."

Das Geschworenengericht ist in Belgien eine umstrittene Institution. Etliche Juristen lehnen die Laien-Richter ab, weil gerade bei Kapitalverbrechen Professionalität und nicht der gesunde Menschenverstand gefragt sei.

Andere verteidigen dieses System vehement: Als Vertreter des Volkes könnten die Geschworenen gerade in diesem Fall das erschütterte Vertrauen in die Justiz wieder stabilisieren. Justizministerin Laurette Onkelinx jedenfalls ist eine "glühende Verfechterin der Geschworenenjury". Teil eines Netzes?

Auf die sechs Männer und sechs Frauen und ihre Stellvertreter, die schließlich am Mittag in Arlon gewählt werden, wartet ein juristisch anspruchsvolles Verfahren. Zwar kann sich niemand ein Urteil über Dutroux vorstellen, das milder ausfallen könnte als lebenslange Haft.

Ganz unklar aber ist noch die Rolle des Finanzbetrügers Michel Nihoul. Sind es nur Verdächtigungen und Denunziationen, die gegen ihn sprechen, oder kann man ihm tatsächlich nachweisen, dass er bei den Kindesentführungen mitgewirkt oder sie sogar in Auftrag gegeben hat?

Der Hauptangeklagte Marc Dutroux hat Nihoul anfangs entlastet. Seit einiger Zeit scheint er seine Strategie zu ändern. Offenbar will er die Geschworenen überzeugen, dass er selbst nur Teil eines "polykriminellen Netzes" gewesen ist.

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