Drogenkrieg in Mexiko:Ansingen gegen den Kugelhagel

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Schüsse gehören im mexikanischen Drogenkrieg zum Alltag - und nicht selten trifft eine Kugel einen Unbeteiligten. Eine Kindergärtnerin griff nun zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Mit einem Lied beruhigte sie ihre Schützlinge während einer Schießerei - und rettete ihnen so vielleicht das Leben. Gefilmt hat sie die rührenden Szenen mit ihrer Handykamera.

Camilo Jiménez

"Kopf auf den Boden! Kopf auf den Boden!" Es ist die Angst vor der "bala perdida", vor der "verlorenen Kugel". Jeder, der in den Rauchwolken des Drogenkriegs in Lateinamerika gelebt hat, kennt den Ausdruck: Eine "bala perdida" ist eine Kugel, die bei einer Schießerei abgegeben wird und ihr Ziel verfehlt. Sie kann auf offener Straße, auf einem Platz oder in einem Park den Leib eines unbeteiligten Passanten durchlöchern. Tausende Menschen haben die "verlorenen Kugeln" bereits getötet. "Bala perdida" tötet Kind, hieß es erst am Dienstag wieder auf der Titelseite einer mexikanischen Tageszeitung.

Ein Zeichen der Humanität: Erzieherin Martha Rivera mit zwei Kindergartenkindern. (Foto: REUTERS)

"Kopf auf den Boden!", schreit auch Martha Rivera, als auf der Straße geschossen wird. Sie arbeitet in einem Kindergarten in La Estanzuela, einem Viertel im Süden der mexikanischen Stadt Monterrey. Verfeindete Killerbanden haben ihre Waffen gezückt. Sie schießen anderthalb Minuten lang.

"Kopf auf den Boden!", schreit die Frau den Kindern zu, die sie betreut. Sie bleibt ruhig und spricht mit ihnen: "Es wird uns nichts passieren." Die Kinder legen sich auf den Boden. Und während das Donnern der Maschinengewehre lauter wird, fangen alle an zu singen.

In mexikanischen Schulen, Universitäten und Bürogebäuden wird die Maßnahme immer häufiger geübt. Kopf auf den Boden, sich nicht bewegen, warten, bis der Kugelhagel vorbei ist. In Mexiko ist die Gefahr allen bewusst. Seit fast fünf Jahren leidet das Land an der Gewalt der Drogenkartelle.

Im Jahr 2006 erklärte Präsident Felipe Calderón den mächtigen Drogenorganisationen seines Landes den Krieg. Ein Krieg ist das, der durch Millionen Dollar aus Washington subventioniert wird. Ein Krieg, der nur Tote und keine Ergebnisse gebracht hat.

Auftragsmorde und Kopfschüsse, Folter und Enthauptungen

Mehr als 40.000 Menschen sind den Kämpfen bisher zum Opfer gefallen; Kämpfen zwischen den Drogenkartellen untereinander, zwischen den Kartellen und dem Staat. Und die Opfer starben nicht nur durch "balas perdidas". Jeden Tag gibt es in Mexiko Auftragsmorde und Kopfschüsse, Folter und Enthauptungen.

Und es gibt den psychischen Tod, den Entführung und Erpressung mit sich bringen. Immer häufiger und immer brutaler werden die Gewaltorgien. Der Drogenkrieg lauert an jeder Ecke, und das wissen viele.

Nur kleine Kinder nicht. Dafür Martha Rivera. Als die Schießerei beginnt, schaltet sie die Videokamera ihres Handys an und wirft sich mit den Kindern auf den Boden. Sie sollen den Kopf nicht heben, still bleiben. Die Kinder fragen, was los ist, ob ihnen etwas passieren kann. "Nein", sagt die Lehrerin. Das Beste sei, zu singen. Stunden später wird ein Freund von Martha Rivera das Video über YouTube verbreiten und in dem ersten Kommentar als User fragen: "Wie viele von uns wären beim ersten Schuss nicht sofort losgerannt?"

Millionen von Menschen haben das Video seitdem gesehen. Die wichtigsten Medien Lateinamerikas und die größte Zeitung der spanischsprachigen Welt, El País, veröffentlichten die Aufnahmen im Netz. Am Dienstag erhielt die Lehrerin ein Ehrenzeugnis vom Bundesstaat Nuevo León. "Ich habe meinen Kleinen zu danken", sagte Rivera bei der Übergabezeremonie, "sie gaben mir die nötige Courage."

Es gibt viele Helden im mexikanischen Drogenkrieg. Einige haben Glück wie Martha Rivera und ihre Kinder. Andere mussten fliehen, wie kürzlich Marisol Valles, die 20-jährige Polizeichefin der Stadt Práxedis G. Guerrero. Valles hatte weltweit Schlagzeilen gemacht, weil sie der einzige Mensch in ihrem Dorf war, der den gefährlichen Job übernehmen wollte. Und andere sterben als Märtyrer: Ein Mann, der vergangene Woche in der Grenzstadt Ciudad Juárez verzweifelt versuchte, zwei Auftragskiller zu stoppen, wurde von diesen zu Tode geprügelt.

Kampf um Transportwege

Der Drogenkrieg, seit mehr als drei Jahrzehnten tobt er in Lateinamerika. Zuerst in den Achtzigern und Neunzigern in Kolumbien, mit Hunderttausenden Toten. Nun in Mexiko, und in naher Zukunft immer heftiger in mittelamerikanischen Ländern. In Honduras kam es vor wenigen Wochen zum größten Massaker seit Ende des Bürgerkrieges.

Gekämpft wird um Transportwege für Drogenlieferungen aus Südamerika - und unter dem Zeichen der US-Doktrin: Drogen seien ein Problem der nationalen Sicherheit und nicht, wie unabhängige Organisationen, Forscher und viele Politiker beklagen, ausschließlich eine Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit.

So gehen Millionen Dollar in Waffenarsenale von Armeen, die trotz aller Investitionen machtlos bleiben. Indes konsumieren die Menschen in den USA und Europa unvermindert die Drogen, die den Krieg mitantreiben: Die Kavaliersdroge Kokain oder als hippe Pillen getarnte Opiate.

Das Video aus dem Kindergarten von La Estanzuela macht keine Hoffnung, aber es porträtiert einen Augenblick der Humanität. Seine berührende Kraft spricht für sich selbst. Die Lehrerin singt: "Wenn die Regentropfen aus Schokolade wären ...", und als sie fragt, wer denn Schokolade möchte, schreien alle Kinder: "Ich!" In diesem Moment sind die Stimmen lauter als die Maschinengewehre auf der Straße.

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