Drogenkrieg in Marseille:Favela am Mittelmeer

"Hauptstadt des Verbrechens" wird Marseille auch genannt. Seit Jahrzehnten schaffen es die französischen Behörden nicht, in der Hafenstadt die Kriminalität einzudämmen. Mittlerweile hat die Gewalt dort solche Ausmaße erreicht, dass Politiker nach der Armee rufen.

Stefan Ulrich

"Marseille ist nicht mehr Neapel, sondern schon Rio", sagt Jacques Dallest, der Staatsanwalt der französischen Hafenstadt. Er meint das nicht als Kompliment. Und er denkt auch nicht an Zuckerhut, Copacabana und Tanga-Mädchen, sondern an Drogenberge, verwahrloste Trabantenstädte und Kapuzen-Burschen, die mit Kalaschnikows um sich schießen wie in den Favelas, den Armenvierteln Brasiliens.

Bandenkrieg in Marseille

Die jugendlichen Kriminellen in Marseille besorgen sich Kriegswaffen und zögern nicht, diese einzusetzen. Hier präsentiert ein Polizist eine beschlagnahmte Kalaschnikow.

(Foto: dpa)

21 Menschen wurden seit Anfang dieses Jahres im Großraum Marseille bei Bandenkriegen ermordet. Im gesamten Vorjahr waren es "nur" 17 Todesopfer. Die Lokalpolitiker sind verzweifelt. Sie fordern eine Sonder-Sicherheitszone für das ganze Stadtgebiet, einen "Marshall-Plan" oder gleich den Einsatz der Armee.

Die frühere konservative Regierung schaffte es nicht, der Kriminalität und Verwahrlosung in den "Cités", den oft von riesigen Blocks geprägten Wohnsiedlungen, Herr zu werden. Nun will es die sozialistische Regierung besser machen. Premier Jean-Marc Ayrault bestellte am Donnerstagnachmittag mehr als ein Dutzend Minister zu einer Sondersitzung im Blauen Salon seines Palais Matignon in Paris ein, um ausschließlich über Marseille zu beraten. Das war eine Premiere in Frankreich.

"Wir haben es mit einem extrem großen Problem zu tun"

Die Regierung wollte eine "globale Lösung" für die zweitgrößte Stadt des Landes und deren 850.000 Einwohner suchen. Am Abend nach dem Treffen sagte Ayrault dann, das Schicksal Marseilles sei eine Frage des nationalen Interesses. "Frankreich braucht es, dass Marseille eine große europäische Metropole wird." Der Premier versprach, 205 zusätzliche Polizisten und Gendarmen als Verstärkung zu schicken. Die Regierung überlegt zudem, bereits alle zwei Jahre alten Kinder in Marseille in die Vorschulen zu schicken, damit die Eltern entlastet werden und Kinder aus Einwanderer-Familien früh Französisch lernen.

"Wir haben es mit einem extrem großen Problem zu tun, das die Schattenwirtschaft betrifft und ganze Stadtteile, in denen sich Banden eingenistet haben", hatte Ayrault vor dem Treffen gesagt. Nun gelte es "an allen Fronten zu kämpfen", politisch, strafrechtlich und wirtschaftlich. Er wolle Marseille wieder zu einer Stadt mit Ausstrahlung machen.

Auf den ersten Blick scheinen die Voraussetzungen dafür günstig zu sein. Marseille ist der wichtigste Hafen Frankreichs und dessen Tor zu Afrika. Die Stadt mit ihrer jungen Bevölkerung sieht sich als Drehscheibe des Mittelmeerraums, was sie mit dem gerade entstehenden "Musée des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée" unterstreicht. Im Jahr 2013 wird Marseille auch noch Kulturhauptstadt Europas. Doch alldem zum Trotz produziert die Metropole vor allem Negativschlagzeilen. "Hauptstadt des Verbrechens" wird sie immer wieder genannt.

Hemmungsloser Einsatz von Kriegswaffen

Früher, etwa zur Zeit der "French Connection", herrschten hier große, straff organisierte Drogenmafien. Heute werden die Problemviertel von vielen kleinen Banden beherrscht, die sich den Rauschgiftmarkt streitig machen. Die oft sehr jungen Dealer beschaffen sich Kriegswaffen wie zum Beispiel Maschinenpistolen und setzen diese hemmungslos ein. Der Polizeipräfekt Alain Gardère behauptet dennoch, Marseille sei "eine ziemlich friedliche Stadt". Seine Beamten haben seit Januar 31 Kalaschnikows beschlagnahmt und 470 Drogenhändler festgenommen.

Kriminalisten und Sozialarbeiter bezweifeln jedoch, dass das viel bewirkt. Wenn die Polizei zehn Dealer festnehme, rückten sofort zehn andere in den heruntergekommenen Treppenhäusern der Sozialwohnungsblocks nach. Das Problem sei allein mit Polizisten und Staatsanwälten nicht zu lösen. "Wir müssen aufhören, zu glauben, dass die Kriminalität vom Himmel fällt", fordert der Soziologe Laurent Mucchielli. Sie wurzle in einer sozialen Misere, in schlechter Schulbildung und hoher Arbeitslosigkeit. Mehr als 17 Prozent der Marseillais sind arbeitslos. Im Landesdurchschnitt sind es zehn Prozent.

Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht in manchen Trabantenstädten im Norden der Hafenstadt annähernd 50 Prozent. Fast jede dritte Familie in Marseille lebt unterhalb der Armutsschwelle. Umso attraktiver wirkt auf etliche Jugendliche das schnelle Geld, das sich im Drogenhandel machen lässt. In der Cité "La Visitation" sollen laut Recherchen der Behörden Rauschgiftverkäufer monatlich durchschnittlich 9000 Euro verdienen. Die "guetteurs", die oft minderjährigen "Späher", die nach der Polizei Ausschau halten, kommen auf mindestens 100 Euro am Tag.

Provokanter Vorschlag

"Der wichtigste Arbeitgeber in manchen Trabantenstädten ist der Drogenhandel", sagt die sozialistische Senatorin und Stadtteilbürgermeisterin Samia Ghali. "Diese Viertel sind aufgegeben worden. Marseille ist die rückständigste Stadt Frankreichs." Madame Ghali weiß, wovon sie spricht. Die Tochter von Einwanderern ist selbst in einem Problemviertel der Mittelmeerstadt aufgewachsen. "Ich habe gesehen, wie meine Freunde rauschgiftsüchtig wurden", erzählte sie einmal. Das habe sie dazu gebracht, in die Politik zu gehen.

Ghali, die bei den Bürgermeisterwahlen 2014 antreten will, hat ihre Sozialistische Partei gerade mit einem provokanten Vorschlag aufgeschreckt. Nur noch die Armee könne in Marseille Ordnung schaffen, sagte die Mutter von vier Kindern der Zeitung La Provence. Die Soldaten sollten zunächst die Dealer entwaffnen und dann, "wie in Kriegszeiten", Straßensperren errichten, um die Rauschgift-Kunden aufzuhalten. Die Regierung hat das umgehend zurückgewiesen. Doch auch sie verspricht jetzt "eine außergewöhnliche Antwort des Staates", um Marseille der Gewalt zu entreißen.

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