Der Barbarastollen im Schwarzwald:Geschichte, reif fürs Fass

Kafkas Briefe oder eine Krönungsurkunde von 936 - auf Mikrofilm und bombensicher lagert in der alten Mine, was von den Deutschen ewig bleiben soll.

Bernd Dörries

Wenn es also doch so kommt, wie es nicht kommen soll, und jemand irgendwann nach der Geschichte dieses Landes sucht, dann wird er sich vielleicht wundern, dass sie in Bierfässern eingelagert worden ist. Und wenn er die Fässer geöffnet hat und die Geschichte Deutschlands kennt, wird er vielleicht sagen, dass es zu diesem Land, das es dann nicht mehr gibt, ganz gut passt, seine Geschichte in Bierfässer zu verpacken.

Der Barbarastollen im Schwarzwald: Fass neben Fass

Fass neben Fass

(Foto: Foto: dpa)

Wer sich auf den Weg zur deutschen Geschichte macht, muss von Freiburg aus durch das kleine Dörfchen Oberried, den Berg hinauf, an den zwei kleinen Fachwerkschwarzwaldbauernhäuschen vorbei und einen kleinen Feldweg entlang. Links und rechts die Hänge der Berge, hinter der Kurve liegt der Eingang zum Barbarastollen: Ein großes Eisentor, für das man einen Schlüssel braucht und einen Code für das Tor dahinter.

Es sind noch 400 Schritte in die Vergangenheit. Im Neonlicht liegt ein langer Gang, aus dem sie vor vielen Jahren das Silber herausgeschafft haben, und an dessen Ende jetzt das liegt, was die Archivare in Deutschland für das Wertvollste gehalten haben, das in ihren Kellern liegt. Sie haben es auf Mikrofilme kopiert und diese in Bierfässer eingerollt und dann zum Stollen gebracht, dem "Zentralen Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland". So haben sie die Schatzkammer dieses Landes veramtsdeutscht.

Auf dem Niveau des Vatikan

Ein Maler hat vor vier Monaten die Wände weiß gestrichen, damit es ordentlich aussieht hier mitten im Berg, die Farbe ist noch nicht trocken, so nass und kalt ist es. Vor dem kleinen Raum, in dem die Geschichte liegt, haben sie drei große blaue Dreiecke aufgehängt. Wie die zu groß geratene Beschilderung eines Wanderweges sehen sie aus. Nach der Haager Konvention für den Schutz von Kulturgütern stehen sie für die höchste Schutzstufe der Vereinten Nationen.

Der Stollen ist auf allen Armee-Karten eingezeichnet, seine Umgebung ist Sperrgebiet. Will die Bundeswehr auf den Schauinsland fahren, muss sie einen Umweg nehmen. Neben dem Barbarastollen haben weltweit nur noch der Vatikan und das Reichsmuseum in Amsterdam die höchsten Schutzstufe. "Die Italiener schützen ihre Kirchengüter, die Holländer ihre Bilder, und die Deutschen schützen ihre Akten", sagt Christoph Unger, 47, Präsident des Bundesamtes für Katastrophenhilfe und Bevölkerungsschutz, dem der Stollen untersteht.

Geschichte, reif fürs Fass

Deutschland und seine Akten. Es sind nur ein paar Schritte von der Ernennungsurkunde Hitlers zu der von Ulbricht. Dazwischen die Handschriften Bachs und die Korrespondenz von Goethe. Mehr als tausend Jahre in einen langen schmalen kleinen Raum, nach rechts 25Meter zum Westfälischen Frieden, nach links 25Meter zum Bauplan des Kölner Doms. Es sieht aus wie im Kühlraum einer Brauerei, 1200Fässer, die in Regalen gestapelt sind. Gesichert durch Kameras und Tore, gemacht für die Ewigkeit. Unerreichbar für die große Bombe, deretwegen das alles entstanden ist.

Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen die Völker, ihre Vergangenheit vor sich zu schützen, vor den Menschen. Die Totalverluste dieses Weltkrieges sollte es nicht mehr geben, die Haager Konvention zum Schutz der Kulturgüter wurde vereinbart. Aber erst, als es so erschien, als könne sich die Geschichte wiederholen, hat man beschlossen, sie in Sicherheit zu bringen.

Es waren der Kalte Krieg und die Angst vor der Atombombe, die dazu führten, dass man das frühere Bergwerk umgebaut und gesichert hat, und begann, Mikrofilme einzulagern. Das war 1970. Seitdem kommt vier Mal im Jahr neue Ware, eine Milliarde einzelne Bilder auf Mikrofilm sind es jetzt.

Und wenn man Christoph Unger fragt, was denn nun genau darin sei, sagt er, dass sei gar nicht leicht zu sagen. Der Präsident des Bundesamtes für Katastrophenhilfe und Bevölkerungsschutz ist kein Archivar oder Historiker, sondern ein Karrierebeamter, er hat die Ochsentour durch die Ministerien gemacht. Ein Mann der Akten. Er ist extra aus Bonn angereist, wo sein Ministerium den Dienstsitz hat. Unger sagt, er könne nicht auf Anhieb sagen, was alles im Stollen ist. Dafür sei es einfach zu viel.

Und ebenso schwierig wie die Frage, was genau im Stollen liegt, ist die danach, was denn noch hineinkommen soll. Was zur deutschen Geschichte gehört - und was nicht.

Kulturhoheit sei erst mal Ländersache, sagt Christoph Unger. Es ist ein Satz, den man wahrscheinlich schnell lernt, wenn man in einem Ministerium arbeitet. Jedes Bundesland wählt also selbstständig aus, was es als erhaltenswertes Kulturgut erachtet. Die Berliner haben natürlich die Akten zum Hauptmann von Köpenick eingeschickt und die Reichsstädte ihre Urkunden. Viermal im Jahr kommen neue Bierfässer aus den Ländern mit 100Millionen neuer Bilder im Barbarastollen an. Die Chefarchivare des Bundes steuern ihren Teil aus dem Bundesarchiv und dem Geheimen Staatsarchiv bei.

Geschichte, reif fürs Fass

Unger ist zwar der Chef des Stollens, aber er hat keine Kontrolle darüber, was dort hineinkommt. Nur über ein paar Richtlinien. Es gibt die "technische Anweisung für die Durchführung der Sicherungsverfilmung", die vorgibt, wie die deutsche Kultur auf genau 32 mal 45Millimeter zu verkleinern ist. Und es gibt den Richtwert, was zu sammeln ist. Nach der so genannten Dringlichkeitsstufe eins: 100 Prozent aller "Findbehelfe", also aller Karteien der einzelnen Archive, 100 Prozent aller handgezeichneten Karten und Pläne. 30 Prozent der Akten aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert und 15 Prozent der Akten aus der Zeit danach. Geschichte nach Quoten.

Die älteste Urkunde stammt aus dem sechsten Jahrhundert, aus der Zeit der Merowinger. Die Deutsche Geschichte endet im Moment bei Fass Nummer 1705, mit dem Spielplan der Bayreuther Festspiele von 1989, ganz klein kopiert auf Mikrofilm. Weiter ist man bisher noch nicht gekommen.

Einerseits sei es die "Creme de la Creme der Akten", die man zu ihm schicke, sagt Unger: Die Protokolle des Bundeskabinetts, Staatsverträge und Gesetzestexte. Dinge also, über die ganz oben, an der Spitze des Staates entschieden wurde. Andererseits ist der Barbarastollen eben mehr als eine Sammlung von Aktenzeichen. Aus den staatlichen Bibliotheken und Institutionen wird das verfilmt, was als wichtig erscheint und nur in kleinen Einheiten vorhanden ist, oft nur als Unikat: die Krönungsurkunde Kaiser Ottos des Großen von 936, die Briefe Franz Kafkas.

Es muss nur alles irgendwann durch die Hände einer staatlichen Institution gegangen sein, sagt Roland Stachowiak. Er trägt einen Pferdeschwanz und hat sich lange um die technische Seite gekümmert. Ans Revers seines Jacketts hat er eine kleine Gitarre aus Metall gesteckt, und mit seinen langen Haaren sieht er so aus, als könne er sich durchaus vorstellen, hier Dinge zu archivieren, die in eine andere Lebenswirklichkeit gehören als die Staatsverträge und die Handschriften Bachs. Eine Heavy-Metal-Platte vielleicht, die er gerne hört. Das würde aber an der Zuständigkeit und am Format scheitern.

Genügt alles mit "L"?

Auch mit anderen Dingen, die wichtig für das Land sind, ist es nicht so einfach. Mit dem Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 zum Beispiel. Man kann in den Zeitungen lesen, deren Jahrgänge hier auch gespeichert sind, was für eine Zeit das damals war und was das Finale von Bern für die BRD bedeutete, auf Bilder aufzeichnen können sie es nicht. "Das fällt in die Zuständigkeit der Rundfunkanstalten und ihrer Archive", sagt Stachowiak.

Die Art, wie Geschichte entsteht und was als bewahrenswert erachtet wird, ist eben auch eine Frage der Richtlinien. Vergangenheit, wie der Beamte sie sieht. Der Bauplan des Kölner Doms fand seinen Weg hierher, weil der Bauträger damals der preußische Staat war.

Einmal im Jahr treffen sich die Vertreter der Länder, um Probleme der Archivierung zu besprechen: Es tagt der "Fototechnische Ausschuss der Archivreferenten-Konferenz". Bei diesen Zusammenkünften werde viel über technische Details diskutiert, sagt Martin Luchterhand, der Vorsitzende. Aber manchmal gehe es auch um Grundsätzliches, um die Problematik der "Massenakten" beispielsweise.

Es geht um die Frage, ob man wirklich alles archivieren muss. Ob man beispielsweise die gesamten Akten eines hohen Gerichts aufbewahrt, oder ob der Buchstabe L vielleicht genügt, um einen Eindruck zu bekommen. Es geht auch darum, wie man all des Papiers Herr wird, das dieses Land produziert.

Martin Luchterhand sagt, die Informationsdichte sei in den letzten Jahren stark gesunken. Er klingt ein wenig erschöpft, für das Bundesland Berlin ist er der einzige Mitarbeiter, der entscheidet, was in den Stollen kommt. "Die Menge der Akten ist gestiegen, es steht aber immer weniger drin", sagt er.

Und wenn die Archivare über die Jahrhunderte zurückschauen, dann sehen sie, dass der Staat zwar immer mehr Akten produziert und immer neue Vorschriften, dass das Leben des Individuums aber aus seinem Blick gerät. "Wenn man die Archivalien eines Klosters aus dem 16.Jahrhundert auswertet, erfährt man mehr über das Leben der Menschen." Dass dies heute nicht mehr so ist, liege auch an der Vielzahl der Medien, der elektronischen vor allem, von denen man nicht genau wisse, wie lange sie die Geschichte speichern und wer sich überhaupt darum kümmert. Ob mit dem nächsten Microsoft-Systemwechsel nicht vielleicht alles vorbei ist.

Manchmal, ganz selten, denkt Martin Luchterhand auch darüber nach, welches Bild derjenige bekommt, der in vielen hundert Jahren vielleicht einmal den Stollen öffnet, sollte es doch zum großen Krieg gekommen sein. "Man bekäme das Bild eines geordneten Staates, das Leben durch die Behördenbrille." Martin Luchterhand sagt, er hoffe, man habe das Richtige archiviert.

Einmal haben sie die Richtlinien und Traditionen der Archivkunde gedehnt und etwas im Stollen eingelagert, das nur dadurch wichtig und erhaltenswert wurde, dass man es nicht sehen darf. 2004, zum 50. Jahrestag der Haager Konvention, haben 50 deutsche Künstler, darunter Christoph Schlingensief und Jörg Immendorf, eine exklusive Arbeit angefertigt, die sie niemandem gezeigt haben und die dann unter der Aufsicht eines Notars im Bierfass verschwand.

In der Bonner Kunsthalle wurden die Fässer noch einmal gezeigt - verschlossen natürlich -, bevor sie in den Stollen wanderten. "Noch bevor Kunst rezipiert werden kann, entzieht sie sich wieder und wird mit diesem Entzug zum Kulturgut erklärt", beschrieben die Initiatoren diesen Vorgang. Jetzt stehen sie im Stollen, ganz hinten links, in Fässern aus V2A-Stahl, wie die anderen Mikrofilme.

Fontane in Blau und Rot

Die Sache mit den Bierfässern sei Zufall gewesen, sagt Roland Stachowiak, der zuständige Beamte des Bundesamtes. Man sei auf der Suche nach einem passenden Behältnis gewesen, und die leicht modifizierten Bierfässer böten eben den besten Schutz, sie sind absolut rostfrei. Mindestens 500Jahre lang ließen sich die Mikrofilme lagern, vielleicht sogar 1500, länger als jeder digitale Datenspeicher.

Aber weil die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges eben relativ gering geworden ist, müssen die Leute vom Bundesamt manchmal erklären, warum sie noch den hohen Aufwand der Archivierung betreiben, der mit drei Millionen Euro in ihrem Haushalt veranschlagt ist. Es ist in all den Jahren noch nie passiert, dass jemand in den Stollen kam, um einen Mikrofilm zu holen, der verloren gegangen war.

Man arbeitet also auf einen Ernstfall hin, der noch nie eingetreten ist. "Früher haben sie sich bei uns im Amt auf den großen vaterländischen Krieg vorbereitet", sagt Unger, der seit November 2004 im Amt ist. Die Welt habe sich aber verändert. Deshalb haben sie auch seine Behörde umbenannt. Aus dem Zivilschutz-Bundesamt wurde das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.

Die Behörde soll aus ihrer Trägheit geholt werden, die sie nach dem Ende des Kalten Krieges befiel. Nicht mehr bewaffnete Konflikte, sondern Feuer und Naturkatastrophen seien die aktuellen Gefahren, sagt Unger. Ämter schaffen sich nicht ab, sie suchen sich neue Aufgaben. Dazu gehört der Kulturschutz. Wenige Wochen vor dem Brand in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek hatte man mit der Verfilmung ihrer Bestände begonnen. Zu spät, um alles zu retten. Jetzt macht man mit dem weiter, was übrig ist.

Und wenn alles gut geht, wird die Geschichte der Bundesrepublik bald auch in Farbe abgespeichert. Mit seinen Kooperationspartnern arbeitet das Amt am farbigen Mikrofilm, der erste so genannte "Farbmikrofilm-Laserausbelichter" ist fertig und hat seine Arbeit aufgenommen. Dann kann man auf den Manuskripten von Theodor Fontane die Anmerkungen in Blau und Rot unterscheiden. Und auf den Akten der Minister die grünen Unterschriften sehen. Das ist die bunte Geschichte eines Landes, das gerne Akten sammelt und seine Vergangenheit in Bierfässer steckt.

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