Cannabis auf Rezept:Droge auf Weißbrot

Israel Pioneers Use Of Medical Marijuana

Die Hanfpflanze enthält berauschende Wirkstoffe. Aber sie kann auch Schmerzen und Übelkeit nehmen. Viele Patienten sagen, dass ihnen Cannabis besser hilft als herkömmliche Medikamente.

(Foto: Uriel Sinai/Getty Images)

Patienten bekommen Cannabis neuerdings von der Krankenkasse erstattet. Dazu müssen sie allerdings einen Arzt finden, der ihnen ein Rezept ausstellt. Er kann allein entscheiden, ob eine Cannabis-Therapie sinnvoll ist.

Von Antonia Küpferling und Helena Ott

Wenn Anette M. ihre Medizin braucht, geht sie an den Kühlschrank. Sie holt ein kleines braunes Fläschchen heraus, schraubt die Verschlusskappe ab und träufelt zwei zähe, farblose Tropfen auf ein Stück Weißbrot. Es riecht ein wenig, als hätte sich jemand einen Joint angezündet. Mit Rausch aber hat es nichts zu tun, wenn Annette M. ihr Cannabis-Medikament mit dem Weißbrot herunterschluckt. Es geht der 36-jährigen Berlinerin nicht um Genuss. Ein Wirkstoff aus der Cannabispflanze verschafft der von Dauerschmerzen geplagten Frau ungeheure Erleichterung.

Seit sechs Monaten nimmt Annette M. nun das Medikament Dronabinol, das den Hauptwirkstoff THC aus der Cannabispflanze enthält. Ohne das Schmerzmittel könnte sie weder ihren Alltag bewältigen noch ihre Schüler an einer Berliner Waldorfschule unterrichten. Seit zehn Jahren hat die Lehrerin einen gutartigen Tumor im Kreuzbein. Unablässig drückt er auf ihre Nerven. Der Schmerz beginnt in der oberen Gesäßhälfte, strahlt ins Bein und in den ganzen Beckenbereich. Es gab eine Zeit, da waren die Schmerzen so stark, dass sie für ein Jahr krankgeschrieben wurde. "Das wollte ich auf keinen Fall wieder", sagt M.

"Ich bin natürlich glücklicher, aber ich bin nicht durch die Droge berauscht."

Früher konnte sie dem Schmerz nicht ausweichen: "Das war wie Feuer durchs Bein." Erst der Cannabis-Extrakt brachte die Erleichterung, der Schmerz bricht nun nur noch selten durch. Doch das Medikament beeinträchtigte ihr Leben auf andere Weise - finanziell: 250 Euro musste Annette M. bisher im Monat für die Tropfen zahlen. Geld, von dem sie sich früher gerne Karten für Theater- oder Museumsbesuche kaufte. Das dürfte bald wieder häufiger möglich sein. Denn Annette M.s aktuelles Arzneifläschchen ist fast leer, und wenn sie ein neues anbricht, wird wohl erstmals ihre Krankenkasse für das Medikament zahlen: Seit dem 10. März müssen die gesetzlichen Kassen die Kosten für Cannabis-Therapien übernehmen. Schwerkranke erhalten Cannabis auf Rezept - entweder als Extrakt in Form von Dronabinol oder als Marihuana, in Form getrockneter Blüten.

Vor der Gesetzesänderung brauchten Patienten eine Ausnahmegenehmigung vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Jetzt kann der Arzt allein entscheiden, ob eine Cannabis-Therapie sinnvoll ist. Die Krankenkasse muss das erste Rezept dann nur noch genehmigen. Nervenschmerzen, Spasmen durch Multiple Sklerose oder Übelkeit bei der Chemotherapie: Bei diesen und anderen Beschwerden können Patienten auf Cannabis zurückgreifen.

"Ich war total antriebslos und hatte meine Libido komplett verloren." So erzählt Annette M. von ihrer Zeit vor Cannabis. Lange litt sie unter den starken Nebenwirkungen der Opiate und Antiepileptika, die sie damals gegen die Schmerzen nahm. Raphael Gaßmann geht davon aus, dass Cannabis-Medikamente weniger Nebenwirkungen haben als herkömmliche verschreibungspflichtige Schmerzmittel. Er ist Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen und sagt: "Das sieht man an den Erfahrungen der Menschen, die Cannabis ohne Erlaubnis über Jahre konsumiert haben, um ihre Schmerzen zu behandeln." Dennoch stand im ersten Entwurf des Gesetzes "Cannabis als Medizin", dass die Schmerzpatienten zuerst mit herkömmlichen Medikamenten behandelt werden müssen. Erst wenn keines der Schmerzmittel mehr anschlägt, sollte Cannabis eingesetzt werden dürfen. "Zum Glück wurde das gestrichen", sagt Gaßmann. "Es wäre ja auch aberwitzig, wenn erst alle anderen Therapiemöglichkeiten, wie hoch dosierte Opiate mit ihren teilweise großen Nebenwirkungen, ergebnislos ausgeschöpft sein müssten."

Annette M. geht es mit ihrem Cannabis-Extrakt jedenfalls erheblich besser als früher mit den konventionellen Medikamenten. High wird sie davon nicht. "Ich bin natürlich glücklicher, weil meine Schmerzen so effektiv reduziert werden, aber ich bin nicht durch den Wirkstoff berauscht", betont sie. Von den früheren Schmerzmitteln war sie ein bisschen benommen, hatte leichte Konzentrationsschwierigkeiten. Nach ihrem Wechsel zu Dronabinol hat sie einen Konzentrations- und Reaktionstest gemacht - mit so gutem Ergebnis, dass sie nun wieder Auto fährt.

Viele Patienten haben in den letzten Jahren eine Odyssee erlebt: "Ich bin von Arzt zu Arzt gelaufen", sagt Alexandra Scheiderer bei einem Gespräch in einem Münchner Café. "Sieben Ärzte habe ich versucht zu überzeugen, dass Cannabis mir helfen kann." Anders als der Berlinerin Annette M. wollte ihr kein Arzt Cannabis verschreiben. Dann kam die Gesetzesänderung.

Auf die hat Scheiderer lange gehofft, sie hat das Ehlers-Danlos-Syndrom, eine angeborene Störung des Bindegewebes. Die Krankheit führte bei ihr seit 2001 zu mehreren Bandscheibenvorfällen, viermal musste sie sich operieren lassen; ihren Beruf als Altenpflegerin musste sie aufgeben. "Ich bin eigentlich immer müde und habe Kopfschmerzen", sagt die 43-Jährige. "Ich habe jeden Tag Verstopfung und andauernd Schweißausbrüche. Für mich ist das kein lebenswertes Leben mit den Morphinen." Kurz nach der Gesetzesänderung kam jetzt der Lichtblick: Scheiderer hat einen Arzt gefunden, der für sie die Therapie mit Cannabis-Blüten beantragt hat. Nun setzt sie ihre ganze Hoffnung darauf, dass ihre Krankenkasse den Antrag genehmigt.

Ob Patienten süchtig werden können? Das soll eine Begleitstudie klären

Die Erstverordnung dürfen die Krankenkassen allerdings nur im Ausnahmefall verweigern, und das auch nur mit Begründung. Dennoch kann die Genehmigung einige Wochen dauern, sofern es nicht um die Behandlung von Palliativpatienten geht. So schnell wie ein Antibiotikum bekommt niemand in Deutschland Cannabis als Medizin.

Es müsste schnell gehen, vor allem für Schmerzpatienten, findet Michael Schenk, Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten. Der Arzt vom Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin behandelt auch Annette M. Außer ihr hat er bisher aber nur sehr wenigen Patienten ein Cannabis-Medikament verschrieben: "Häufig habe ich es nicht vorgeschlagen, weil ich wusste, dass viele sich das nicht leisten können", sagt er.

Künftig will er bei mehr Patienten mit starken Schmerzen Medikamente mit problematischen Nebenwirkungen stückweise gegen Cannabis austauschen. Wichtig sei, genau zu beobachten, wie einzelne Betroffene auf die Cannabis-Medizin reagieren: "Ganz ausschließen kann man nicht, dass Patienten süchtig werden." Ob bei medizinischem Cannabis eine Abhängigkeit entstehen kann, soll eine Begleitstudie klären. An dieser müssen dem neuen Gesetz zufolge alle Cannabis-Patienten teilnehmen, die Medizinalhanf von der Kasse erstattet bekommen.

Annette M. hat bisher keine negativen Folgen gespürt, seit sie zweimal täglich die Dronabinol-Tropfen nimmt. Im Gegenteil: Heute kann sie wieder befreit Tango Argentino tanzen gehen. Eine Leidenschaft, an der sie, soweit es irgendwie ging, in den letzten elf Jahren festgehalten hat. Mit der Cannabis-Therapie hat sie auch ihr Liebesleben zurückgewonnen und wieder mehr Freude am Unterrichten. "Früher habe ich mir schon gar keine Gedanken mehr über die Zukunft gemacht", erzählt sie. Schließlich war ihre Krankheit unberechenbar. "Jetzt kann ich endlich wieder Pläne schmieden."

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