Camorra-Hauptstadt:Morde und toter Beton

Casal di Principe gilt als Hauptstadt der Camorra. Der Ort sieht unscheinbar aus, doch immer wieder sterben Menschen.

Julius Müller-Meiningen, Casal di Principe

Die Wände sind schwarz, schwarz vor Ruß, der an den Fingern kleben bleibt, fährt man mit ihnen über den Putz. Verkohlte Glühbirnen hängen von der Decke; an der Wand im ehemaligen Kinderzimmer kleben noch die Spuren einer scheinbar gewöhnlichen Kindheit: Kleine, vom Feuer versengte Poster italienischer Popstars, Massimo Di Cataldo und Samuele Bersani. Sonst nichts.

Camorra-Hauptstadt: Unscheinbar ist nur die Ortseinfahrt des kampanischen Casal di Principe - die Geschichten des Ortes sind es ganz und gar nicht.

Unscheinbar ist nur die Ortseinfahrt des kampanischen Casal di Principe - die Geschichten des Ortes sind es ganz und gar nicht.

(Foto: Foto: Müller-Meiningen)

Kein einziges Möbelstück, nicht einmal die Heizkörper haben sie dagelassen. "W.S." ist an einer Mauer mit dem Finger in den Ruß gezeichnet, die Insignien Walter Schiavones.

Hier in der Gemeinde Casal die Principe, in diesem ausgeräucherten Palast hat der Bruder des lange Zeit mächtigsten Camorra-Bosses in Kampanien gelebt und sich seinen größenwahnsinnigen Traum erfüllt: Eine Villa wie in Hollywood, eine Villa wie sie der Mafiaboss Tony Montana aus dem Film "Scarface" bewohnt hat.

So hat sie sich auch der Bruder von Francesco Schiavone bauen lassen, im Erdgeschoss die Halle mit ihren 19 Säulen, von der zwei Freitreppen links und rechts ins Obergeschoss führen. Alles haben die Erben der Schiavones mitgenommen, herausgerissen, vernichtet. Nur die Badewanne, die sich Schiavone wie Tony in sein Schlafzimmer bauen ließ, ist noch da. Sie lehnt aufgerichtet an der Wand im ersten Stock.

Es war ein letzter Akt der Verachtung gegenüber dem Staat, als die Nachfolger Schiavones kamen und Autoreifen im ganzen Haus anzündeten. Die Villa war bereits 1998 nach der Verhaftung der Schiavones konfisziert worden. Walter trieb mit seinen bewaffneten Helfern die Schutzgelder des Clans ein, Francesco "Sandokan" Schiavone, auch er sitzt seit Jahren im Gefängnis, war der Boss im Hintergrund.

Erst werden die Mauern gebaut, dann das Gebäude

In einigen der über die gesamte Provinz verteilten 200 konfiszierten Gütern der Camorra plant die Organisation "Agrorinasce" soziale Projekte. In der ehemaligen Villa Schiavone soll ein Behindertenheim entstehen.

Ein anderes Objekt von Schiavone, das nur aus vier hohen Mauern besteht, soll einmal ein Freilufttheater werden. In Casal di Principe, dieser Hochburg der Camorra, bauen sie immer zuerst die Mauern, damit man nicht sieht, was dahinter passiert.

Die Villa Schiavone in Casal di Principe ist ein Symbol für den Kampf gegen die Camorra in Kampanien. Doch man muss nur von der Terrasse des Palastes einen Blick auf die umliegenden Villen werfen oder Giovanni Allucci, den Geschäftsführer von Agrorinasce fragen. "Unter den Nachbaranwesen, die man von hier sieht, gehören auch ein paar zum Clan der Casalesi", sagt er.

Die Casalesi, so nennen sich einerseits die Bewohner der 20.000-Einwohner-Gemeinde Casal di Principe, die 25 Kilometer nordwestlich von Neapel liegt, als Casalesi werden aber auch die Mitglieder der Camorra-Familien in der Umgebung von Casal di Principe bezeichnet, sie bilden eine der mächtigsten Verbrecherorganisationen der Welt.

"Was die wirtschaftliche Macht angeht, ist Casal di Principe die Hauptstadt der Camorra", schreibt Roberto Saviano in seinem Bestseller "Gomorrha". Die Grenzen zwischen Bevölkerung und organisiertem Verbrechen sind hier fließend. Man muss sich nur die Namen auf den Schildern im Ort ansehen: Arztpraxis Schiavone, Café di Lauro, Bidognetti, Di Caterino, Iovine, Zagaria. Es sind dieselben Namen der 21 Bosse, die vor drei Jahren im Spartakus-Prozess, dem bislang größten Prozess gegen die Camorra, zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden.

Am kommenden Montag treten die Richter der Berufungskammer zusammen, um über das erstinstanzliche Urteil von 2005 zu entscheiden. 626 Verhandlungstage, 508 Zeugen, 122 Angeklagte, insgesamt 844 Jahre Gefängnisstrafe, davon 21 mal lebenslang - das sind die Parameter dieses Prozesses, dessen Urteil nun überprüft wird. Just in diesen Tagen ist die Camorra wieder aus den Schatten der engen Gassen von Casal di Principe und hinter den hohen Mauern ihrer wie Burgen befestigten Villen hervorgetreten.

Vor zwei Wochen wurde Michele Orsi, 47 Jahre alt, und vierfacher Familienvater von fünf Pistolenschüssen niedergestreckt. Es war Sonntag zur Mittagszeit, helllichter Tag. Die Mörder hatten vor seiner Haustür in der Via Catullo gewartet, nicht einmal 500 Meter vom Palast Walter Schiavones entfernt. Orsi wollte vor dem Mittagessen seinen Kindern Coca-Cola in der Bar vor dem Haus holen. Er kam nicht mehr zurück. Vier Schüsse trafen ihn im Oberkörper, einer im Kopf. Die Camorra war wieder da.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, warum für den Richter Raffaello Magi "Tote ein Zeichen der Schwäche" sind.

Morde und toter Beton

Orsi, der Geschäftsführer einer Müllentsorgungsfirma, hatte begonnen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Er hatte den Ermittlern erzählt, von der Camorra erpresst zu werden. Vier Jahre lang soll er 15.000 Euro monatlich an den Casalesi-Clan gezahlt haben. Er nannte die Namen seiner Erpresser, außerdem in die illegale Müllentsorgung verwickelte Gemeindeangestellte, Polizisten und Politiker, sogar den eines Ministers aus der ehemaligen Regierung Silvio Berlusconis.

Camorra-Hauptstadt: Müllberge stapeln sich auf dem Weg nach Casal di Principe.

Müllberge stapeln sich auf dem Weg nach Casal di Principe.

(Foto: Foto: Müller-Meiningen)

Aus bei Orsi abgehörten Telefonaten resultierte, dass der ehemalige Kommunikationsminister Mario Landolfi, der seinen Wahlkreis nördlich von Casal di Principe hat, Mitglieder der Clans in die Gemeindeverwaltung schleuste, um sich dadurch Wählerstimmen zu sichern. Die Ermittler gehen davon aus, dass auch Orsi selbst Teil der finsteren Geschäfte war. Am 17. Juni sollte er erstmals eine Aussage vor Gericht machen.

"Die Organisation" ist aus dem Verborgenen hervorgetreten

Orsi ist der bislang letzte Tote in einer Reihe von Hinrichtungen, Racheakten und Einschüchterungsversuchen, hinter denen die Ermittler den Clan der Casalesi vermuten. Im Mai gingen insgesamt vier Bombendrohungen beim Gericht in Santa Maria Capua Vetere ein, in dem alle Prozesse gegen die Casalesi laufen.

Am 2. Mai wurde Umberto Bidognetti, der Vater eines Kronzeugen, ermordet; am 13. zündeten Unbekannte das Lager des Matratzenunternehmers Pietro Russo an, der einer Organisation vorsteht, die sich gegen Schutzgeldzahlungen wehrt; am 16. Mai wurde der Fahrschullehrer Domenico Noviello erschossen, der seine Erpresser angezeigt hatte.

Ende des Monats wurde Francesca Carrino bei einem Attentat, das ihrer Tante Anna Carrino galt, verletzt. Die langjährige Lebensgefährtin des Bosses Francesco Bidognetti hatte am 23. April in der Nachrichtensendung des ersten Fernsehprogramms die Clans zur Aufgabe aufgerufen: "Der Staat wird siegen. Ergebt euch und arbeitet mit der Justiz zusammen" , sagte Carrino. Kurz darauf schlug die Camorra zu.

"Die Toten sind ein Zeichen der Schwäche", urteilt Raffaello Magi. Der 45-jährige Richter lebt in einer Wohnung am Stadtrand der Provinzhauptstadt Caserta. Besucher holt der hochgeschossene Mann mit Vollbart und schwarzen Locken persönlich an einem Treffpunkt zwei Straßen weiter ab. Magi kommt ohne Leibwächter, er bestellt die Eskorte nur, wenn er zum Gericht in Santa Maria Capua Vetere fährt, wo er seit 14 Jahren als Richter Prozesse gegen die Camorra führt.

Der Richter hat das erstinstanzliche Urteil in dem 2005 zu Ende gegangenen Spartakus-Prozess gegen die Casalesi geschrieben. Der aufständische Sklave Spartakus begann vor mehr als 2000 Jahren seine Rebellion gegen Rom in genau der Gegend, die nun von den Camorra-Clans beherrscht wird. Heute ist es der Staat, der sich hier auflehnen muss gegen die Übermacht der organisierten Kriminalität.

Ausschaltung von Kronzeugen, die neue Ermittlungen ausgelöst haben, Einschüchterung von potentiellen Justiz-Kollaborateuren, innere Kämpfe um die Führung - diese Gründe vermutet Magi hinter den jüngsten Morden. Die Camorra habe nun ihre Strategie verändert, im Verborgenen und ohne großes Aufsehen zu operieren, analysiert Magi.

In den 1980er Jahren durch den Drogenhandel mächtig geworden, investierte der Clan der Casalesi, ein Konsortium zahlreicher Camorra-Familien aus der Gegend, seine Gewinne im Baugeschäft. Heute beherrschen sie Firmen in ganz Europa und schöpfen öffentliche Aufträge ab. Es gebe keinen staatlichen Bauauftrag zwischen Caserta und dem 200 Kilometer entfernten Rom, an dem "die Organisation" nicht beteiligt sei, sagt Magi.

Die Organisation, so nennt man in Justizkreisen die Camorra. "Das, was die Casalesi so mächtig macht, ist das weite Territorium, das sie mit Drogenhandel, Baugeschäft, Erpressungen und illegaler Müllentsorgung beherrschen. Es ist ihre große Goldgrube."

Stecken in Casal di Principe alle unter einer Decke? Auf der nächsten Seite erfahren Sie mehr.

Morde und toter Beton

Camorra-Hauptstadt: Der Präsident des Gemeinderats von Casal di Principe: Franco di Caterino.

Der Präsident des Gemeinderats von Casal di Principe: Franco di Caterino.

(Foto: Foto: Müller-Meiningen)

Die Justiz ist kaum fähig, diese Macht einzuschränken. Magis Bilanz ist verheerend: "Wir hinken hinterher und haben viel zu wenig Leute." Immerhin patroullieren seit ein paar Wochen mehr Polizeistreifen in Casal di Principe, doch gerade einmal 30 Sonderermittler wurden nach den jüngsten Morden engagiert.

Sie sollen endlich die seit 13 Jahren flüchtigen Nachfolger der inhaftierten Bosse fassen. Gesichter und Namen der Anführer auf freiem Fuß sind bekannt. Die Ermittler sind sich sicher, dass sich Antonio Iovine und Michele Zagaria, die Nachfolger der Schiavones und Bidognettis, immer noch in irgendwelchen Bunkern hinter den Mauern und unter den Villen von Casal di Principe versteckt halten.

Im alltäglichen Kampf gegen die organisierte Kriminalität

Stecken hier alle unter einer Decke? "Es gibt Leute, die dazugehören, welche die wegsehen und andere, denen das alles scheißegal ist", sagt Giovanni Allucci von Agrorinasce. Nur die wenigsten lehnten sich auf.

Der Pfarrer Don Franco aus der Gemeinde San Nicola di Bari, am östlichen Ortsrand von Casal di Principe gelegen, gehört zu denen, die sich wehren. Die Gemeinde ist bekannt, auch weil Don Francos Vorgänger Don Peppe Diana, ein Prediger im Kampf gegen die Camorra, von seinen Feinden ermordet wurde.

Vor der Sakristei streckten ihn die Killer mit vier Schüssen in Kopf und Hals nieder. Vor 14 Jahren war das. Dann schickte der Bischof den damals 28-jährigen Don Franco nach San Nicola.

Gerade hat der heute 42-jährige Pfarrer die Abendmesse gehalten, etwa 40 Personen sind gekommen, fast alles Frauen. Alles, was er in der Predigt sagt, scheint sich auf die Camorra zu beziehen, auch wenn er das Wort nicht in den Mund nimmt. Die Bitte um Vergebung der Sünden, die Jünger, die das Salz in der Erde sein sollen. Das Sich-Verstecken und Sich-Abfinden mit den Verhältnissen.

Nach der Messe sitzt Don Franco in seinem Büro, gleich hinter der Sakristei, vor der Don Peppe Diana ermordet wurde. "In unserer Gegend kann man nicht predigen, ohne sich auf die Realität zu beziehen. Was hätte das denn für einen Sinn?" , sagt er.

Jeder im Ort habe die Wahl, den einen oder den anderen Weg zu beschreiten. Es gebe Leute, die im Ort arbeiteten und nicht korrupt sind. "Der Druck ist hoch. Aber es ist möglich." Mit den Jugendlichen, die die meiste Zeit vor der benachbarten Bar herumhängen, hat er zwei Filme gedreht.

"Liebesgeschichten", wie er sagt. "Bildung und Prävention, das sind die Schlachten, die wir schlagen."

"Nicht alle Casalesi sind Camorristi"

Auf dem Rathausplatz in Casal di Principe sitzen 15 alte Männer vor dem Haus der "Associazione Cattolica" im Schatten. Niemand will hier sprechen, gegenüber steht eine weißhaarige Frau im schwarzen Rock vor einem kleinen Lebensmittelgeschäft. "Camorra, ach was! Die Medien übertreiben", sagt sie.

Die Witwe, die ihren Namen nicht nennen will, lebt seit 35 Jahren im Ort, nie habe sie auch nur die Spur eines Verbrechens miterlebt. "Was weiß ich, was die Hinterwäldler aus den umliegenden Dörfern hier anstellen!", ruft sie. Dann zieht sie sich in ihren dunklen Laden zurück.

Morde und toter Beton

Nebenan, im Rathaus, kann man an diesem Nachmittag einfach die Treppen in den ersten Stock hinauflaufen und trifft dort Franco di Caterino, den 69-jährigen Alterspräsidenten des Gemeinderats, einen kleinen, weißhaarigen Mann mit Brille und gelbem Pullover, der den Namen einer berüchtigten Camorra-Familie trägt.

"Nicht alle Casalesi sind Camorristi", sagt er. Viele trügen dieselben Namen wie die Bosse, doch 95 Prozent der Einwohner seien ehrliche Leute. Die größten Probleme der Gemeinde seien die Arbeitslosigkeit, die etwa 15 Prozent beträgt und die illegalen Einwanderer. Erst dann käme die organisierte Kriminalität, deren Protagonisten vor allem in den umliegenden Dörfern aktiv seien.

Fragt man den Präsidenten des Gemeinderats danach, ob sich im Ort die gesuchten Bosse verstecken, kommt Caterino in Stottern. "Ich will nichts sagen, ich kann nichts sagen. Ich weiß es nicht", kommt es mühsam aus ihm heraus. Es gäbe viele Aktivitäten der Gemeinde gegen das organisierte Verbrechen. Ein Jugendforum, Legalitäts-Seminare zum Beispiel. Und eines der konfiszierten Häuser im Zentrum würde bald zu einer Polizeiwache ausgebaut, sagt er.

Auf der Webseite der Gemeinde ist zu lesen, dass Franco di Caterino zum ersten Mal 1988 in den Gemeinderat gewählt wurde. Er unterstützte damals die Liste des späteren Bürgermeisters Francesco Schiavone, des Cousins des gleichnamigen Clanchefs.

Der Gemeinderat wurde Anfang der neunziger Jahre wegen der Infiltration der Camorra aufgelöst. 2004 wurde Schiavone in Polen festgenommen, gesucht wegen zehnfachen Mordes, drei Entführungen, neun Mordversuchen, mehrfacher Verletzung des Waffengesetzes und Erpressung.

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