Brüssel:Reiz für die Stadt

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Über Nacht angebracht: Ein Penis an einer Häuserwand in der Avenue du Parc in St. Gilles.

(Foto: imago)

Kunst? Ein Scherz? Überdimensionale Geschlechtsorgane an Häuserwänden beschäftigen die Brüsseler. Nun ist eine überraschende Lösung in Sicht.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Auf einmal waren sie da, auf blinden Häuserwänden mitten in der belgischen Hauptstadt. Über Nacht angebracht, heimlich, wie meist bei Street Art: ein Penis in der Avenue du Parc in St. Gilles, eine Vagina samt Penis darin in der Rue des Poissonniers, Stadtmitte. Beides unübersehbar, eine Provokation. An haushohe Comicszenen sind die Brüsseler gewöhnt - aber so etwas? Es galt, eine Haltung zu entwickeln.

"Deplatziert" fand der christdemokratische Abgeordnete Vincent Henderick den Penis. "Der gehört hier nicht hin." Gleich gegenüber gehen Mädchen des katholischen Institute des Filles de Marie zur Schule, was vielleicht kein Zufall ist. "Eine Schande", sagte eine Passantin im Lokalfernsehen; "Es ist schrecklich", eine zweite. Insgesamt aber reagiert die Bevölkerung gelassen auf die Bilder. "Ich lache darüber", schreibt eine Leserin auf der Website der Zeitung Le Soir. Manche Werbung für Unterwäsche sei provozierender. Und ein Leser meint entspannt, man möge bitte mal "Phallus Festival Japan" in eine Suchmaschine tippen . . .

Die Frage nach dem Urheber schien schnell geklärt zu sein. Die schraffierte, schwarz-weiße Ausführung - deutet die nicht auf Vincent Glowinski hin? Der Franzose mit dem Künstlernamen Bonom soll bereits eine masturbierende Frau nahe der feinen Place Stéphanie an die Wand gemalt haben. Doch im aktuellen Fall dementiert er: "Das bin selbstverständlich nicht ich, und ich möchte auch nicht damit in Zusammenhang gebracht werden."

Wer immer es war, beweist Sinn für Timing. Denn Brüssel gedenkt gerade der Anschläge, durch die vor einem halben Jahr, am 22. März, mehr als 30 Menschen ums Leben kamen, weshalb in der vergangenen Woche verstärkt über die Befindlichkeit der Stadt und ihrer Einwohner sinniert wurde. Um die steht es nicht gut. Noch immer herrscht Alarmstufe Gelb, Soldaten mit schweren Waffen bewachen Gebäude, Plätze und Verkehrsmittel. Gelegentliche Bombendrohungen und die Messerattacke einer Verwirrten in einem Bus befördern die Beklommenheit, viele Eltern lassen selbst jugendliche Kinder ungern allein losziehen. Der Tourismus verzeichnet ein Minus um die 20 Prozent, die Regierung befürchtet Einnahmeausfälle in Höhe von 760 Millionen Euro in diesem Jahr.

Der Penis könnte das Böse bannen, wenn er nicht so friedlich darnieder hinge

Sollen die Malereien also den Bad Vibrations kontern, die durch Brüssel schwingen? Le Soir grub einen Experten von der Universität Lille aus, der die These zwar nicht bestätigen mochte, aber zu berichten wusste von der "apotropäischen" Funktion solch expliziter Darstellungen. Seit der Antike werde ihnen die Kraft zugeschrieben, das Böse zu bannen. Mittelalterliche Kathedralen etwa seien übervoll mit Skulpturen, die nackte Männ- oder Weiblichkeit zeigten. Was Leben spendet, soll den Tod besiegen können. Schutz versprach man sich allerdings nur vom Phallus, dem Penis im erigierten Zustand. Das Brüsseler Exemplar indes hängt friedlich darnieder, faltig wie ein Rüssel. Und beschnitten.

Die Lokalpolitiker brauchten ein Weilchen zur Meinungsbildung. Nun haben sie entschieden, auch im Wissen um die Gelegenheit, dem tristen Image der Stadt etwas Reiz zu verleihen. So darf die Vagina bleiben; vielleicht lässt sie sich gar einreihen in die Touristenrouten zu den ComicMurals der Stadt, wo Unverfängliches wie Tim und Struppi zu sehen ist. Der Penis aber muss weg. Zumindest "mittelfristig". Mann mag das unfair finden, aber angesichts seiner Jahrtausende währenden Dominanz in Bild und Tat wird er es verschmerzen können.

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