Brot und Spiele:Die wildeste Show des Südens

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Beim ,,Angola Prison Rodeo'' im US-Bundesstaat Louisiana treten jedes Jahr im Oktober Häftlinge gegen gereizte Bullen an - Tausende Schaulustige sehen zu.

Jonathan Fischer

Irgendwelche Waffen oder Drogen dabei?", ruft der uniformierte Wächter. Es klingt eher wie ein Kommando als eine Frage. Sein Finger deutet auf die gerade geöffnete Bierdose auf dem Beifahrersitz: "Ausschütten!" Ein gelbes Rinnsal plätschert aus dem Wagenfenster auf den heißen Asphalt. Endlich der erlösende Wink in Richtung des von Stacheldrahtzaun gesäumten Tores.

Amerikanischer Volkssport: Das Tête-à-tête mit einem gereizten Bullen ist nicht nur bei den Häftlingen in Angola beliebt. (Foto: Foto: AP)

Es ist die einzige Einfahrt nach Angola, US-Bundesstaat Louisiana. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Farm am Ufer des Mississippi eine Plantage, deren Name auf das Herkunftsland der dort beschäftigten Sklaven verwies.

Dann mutierte Angola zum blutigsten Hochsicherheitsgefängnis Amerikas: Bis in die sechziger Jahre hinein herrschten dort mittelalterliche Zustände, mit Auspeitschungen und jeder Menge ungeklärten Todesfällen - sei es durch die Hand von Wärtern oder Mitgefangenen. Heute beackern hier etwa 5000 Mörder und Schwerverbrecher acht Stunden täglich die Baumwoll- und Gemüsefelder.

Wie jeden Sonntag im Oktober hat sich eine meilenlange Autoschlange vor dem Gefängnistor gebildet: Schaulustige aus dem ganzen Mississippidelta sind der Stichstraße durch dichte Wälder und Sumpfgebiete gefolgt, um dem "Angola Prison Rodeo" beizuwohnen. Oder, wie es ein Werbebanner am Eingang formuliert: "The wildest show in the South".

Entkommen ist noch keiner

Dass es in diesem größten Gefängnis Amerikas um nicht weniger als Leben und Tod geht, zeigen schon die Exponate des angeschlossenen Museums: ausrangierte elektrische Stühle - heute werden die Todesurteile mit der Giftspritze vollstreckt - und Waffen, die bei Ausbruchsversuchen auf dem Gelände der ehemaligen Plantage verwendet wurden.

Doch entkommen ist hier noch keiner: Wer in Angola eingewiesen wird, verlässt den Ort meist nie wieder. Selbst die Toten werden auf dem Gefängnisfriedhof eingebuddelt. So stellt das vor 40 Jahren eingeführte "Prison Rodeo" für viele Gefangene das einzige Fenster zur Außenwelt dar: die einmalige Chance, zu zeigen, dass mehr in einem steckt als ein verurteilter Krimineller.

Vor einem scheinbar endlosen Horizont grüner Wiesen erhebt sich die 7500 Zuschauer fassende Arena: Auf der Zufahrt passiert man einen Betonwürfel mit schmalen Fensterschlitzen; die hier 23 Stunden am Tag eingesperrten Hinrichtungskandidaten werden vom Rodeo bestenfalls den erhöhten Lärmpegel mitbekommen. Vor dem Tribüneneingang eine weitere Durchsuchung. Misstrauisch zieht der Wärter ein Päckchen Brause aus der Hemdtasche, biegt es, schnuppert daran und lässt es schließlich in einem großen Müllsack verschwinden.

Brot und Spiele

Aus der Rodeo-Arena dringt die Western-Melodie von "Riders In The Sky'': "God bless America, land of the home and the free...'' Es folgt die Nationalhymne. Die Zuschauer in der vollbesetzten Arena erheben sich von den Bänken, nehmen ihre Baseballkäppis ab und betrachten schweigend den Einritt der Sheriffs und Wärter. Einer trägt die Südstaatenfahne. Andere Banner haben "Jesus", oder "Praise The Lord" aufgestickt.

Schließlich gehört - darauf ist Gefängnisdirektor Burl Cain besonders stolz - zu Angolas Besonderheiten neben dem Rodeo auch eine Bibelschule mit staatlich anerkannter Predigerausbildung.

Doch wie passen die von Reforminitiativen als "Brot und Spiele'' kritisierten Rodeos zur christlichen Gesinnung des Baptisten Cain? "Das Rodeo'', sagt der Gefängnisdirektor, "stachelt den Ehrgeiz und die Moral der Gefangenen an.'' Er verweist nicht nur auf Hunderte Bewerber um ein Tête-à-tête mit einem gereizten Bullen. Sondern auch auf den begleitenden Markt: An den Buden vor dem Arenaeingang dürfen besonders verdiente Gefangene Mahlzeiten für die Besucher zubereiten.

Die meisten von ihnen sind - wie 80 Prozent der Insassen - Afroamerikaner. Wenige Meter entfernt eine Verkaufsausstellung: Das Angebot reicht vom Ententeich-Aquarell über handgenähte Lederschuhe bis zur Gartenbank. Sorgfältig gearbeitete Stücke, denen man anmerkt, dass ein ganzes Jahr Zeit und viele Hoffnungen in ihre Entstehung investiert wurden. Allerdings trennt die Gefangenen ein Stacheldrahtzaun von ihren Werken und den Rodeobesuchern; so sind sie beim Verkauf auf Helfer oder Verwandte angewiesen. Assoziationen mit einem Zoo drängen sich auf.

Karneval und Nervenkitzel

Viele der auf Bänken aufgereihten Gefangenen aber scheinen den Kontakt mit der Außenwelt zu genießen. Verhärmte, scheinbar reglose Gesichter schauen sehnsuchtsvoll passierenden Frauen hinterher. Diese Chance gibt es nur einmal im Jahr. Andere zeigen angesichts der Aufbesserung ihres Vier-Cent-Stundenlohns ein kleines Lächeln. Schließlich reichen die wöchentlichen 1,60 Dollar nicht mal für ein Päckchen Zigaretten.

Nebenan stolpern nach dem Auftritt der gefängniseigenen Countryband als Clowns verkleidete Kommentatoren mit Eimer auf dem Kopf durch die Arena. Lautes Kinderlachen. Das Rodeo gilt als Familienereignis. Und wenn auf der bewachten Gefangenentribüne gegenüber eine Hundertschaft schwerer Jungs in schwarz-weiß-gestreifter Anstaltskluft auf ihren Auftritt wartet, dann gehört auch das zum Rezept der Show: ein wenig Abschreckung für die eigens zu diesem Anlass herangekarrten jugendlichen Straftäter, ein wenig Karneval, gemischt mit Nervenkitzel. Schließlich würde niemand von so weither anreisen, um Gefangenen beim Basketball zuzuschauen.

Das eigentliche Bullenreiten dauert dann gerade mal ein paar Sekunden. Hardrock bollert aus den Lautsprechern, eine Staubwolke wirbelt auf. Fünf Bullen schießen gleichzeitig aus ihren Boxen. Augenblicke später wälzen sich alle Reiter im Dreck, humpeln in Richtung der Seitenbanden, auf denen für Coca-Cola, Lotterien und die Casinos von New Orleans geworben wird. Der Letzte der Abgeworfenen zeigt das V-Zeichen. Klatschen, Jubelrufe. Und hängende Schultern bei einem, der schon am Boxenausgang herunterfiel - die Chance des Jahres, verpasst.

Größte Nervenprobe am Schluss

Im nächsten Wettbewerb geht es darum, in Zweier-Teams jeweils ein Kalb am Halsseil zu Boden zu ringen. Weitere Disziplinen sind das Zureiten wilder Hengste oder das Pflücken eines mit 500 Dollar dotierten Chips von der Stirn eines gereizten Stiers.

Immer wieder eilen Sanitäter in die Arena, um einen auf die Hörner genommenen Gefangenen wegzutragen. Von ihren Verletzungen wird anschließend nicht die Rede sein. Nur von ihrem lebensgefährlichen Mut: Im Gegensatz zu den geschulten Profis, die üblicherweise Rodeos bestreiten, haben sie meist keine Ahnung von diesem Sport.

Die spektakulärste Nervenprobe aber steht am Schluss: "Convict Poker''. Jeder im Stadion erhebt sich erwartungsvoll, als sich vier Männer an einem Tisch in der Mitte der Arena zum Kartenspiel niederlassen - und kurz darauf ein wütender Bulle auf sie zurast.

Sekundenlang verharrt er vor den Kartenspielern in Angriffspose. Dann wirbeln zwei Insassen mitsamt ihrer Stühle durch die Luft. Raunen von den Rängen. Als Nächstes kommt der Tisch unter die Hörner. Nur ein älterer, etwa 50-jähriger Afroamerikaner bleibt scheinbar ungerührt sitzen.

Tosender Applaus, der alte Mann lässt sich Zeit mit seinem Abgang. Wen interessiert in diesem Moment schon, was ihn hierher gebracht hat? Einen Oktobersonntag lang ist er mehr als ein Schwerverbrecher. Der Held der wildesten Show des Südens.

© SZ vom 12.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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