Beschneidungen in der Türkei:Ein kleiner Schnitt für ihn

Kemal Özkan ist für viele Türken die erste Adresse, wenn ein Kind zum Manne wird - aus der Tradition hat er eine Show gemacht, und ein Geschäft.

Kai Strittmatter

Der Mann mit dem Skalpell. Er hält eine Graphik hoch, auf der ein männliches Geschlechtsteil zu sehen ist. "Blöd ist", sagt er und deutet auf die Graphik, "wenn das Messer hier ausrutscht."

Kemal Özkal; Agata Skowronek

Wie jeder Jude muss auch jeder junge Muslim unters Messer.

(Foto: Agata Skowronek)

Die Spitze des Skalpells tippt auf die rosafarbene Eichel, der Blick streift forschend über das Gesicht des Besuchers. "Aber nicht bei mir", sagt er dann, zufrieden mit der Wirkung seiner Worte. "Nicht bei mir."

Kemal Özkan hat keine Scheu, schon jetzt die Geschichte des türkischen Mannes in zwei Epochen einzuteilen: Vor Kemal Özkan und nach Kemal Özkan. Stolz berichtet er, wie es zur Zeitenwende kam. Ein junger Mann war er damals, Schiffsarzt, mit einer Abschlussarbeit über die Beschneidung in der Tasche. Eines Tages lag er beim Zahnarzt, mehr als vier Jahrzehnte ist das nun her, als der ihm eine Spritze in den Kiefer setzte. Betäubung!, schoss es ihm durch den Kopf. Warum eigentlich nicht?

Vor Kemal Özkan. Da hatten Beschneider ein Ansehen irgendwo zwischen Hausierer und Lumpensammler. Man rief Barbiere oder durchreisende Zigeuner, solange sie nur imstande waren, ein Rasiermesser zu halten.

Als Atatürks Revolutionäre die Türkei gründeten, erließen sie ein eigenes Gesetz und forderten den "wissenschaftlichen Beschneider". Viel mehr als der Titel änderte sich auch dann nicht. "Die einen", erzählt Kemal Özkan, "holten direkt das Messer aus der Tasche, die anderen wuschen es zuvor."

Ohne Verschnitt ging das nicht ab. "Die lernten durch ihre Fehler." Kein Wunder, dass die Jungen in Schreckensstarre verfielen, wenn der Vater ihnen feierlich verkündete, sie würden nun "ein Mann". Wenn die Mutter strahlend Baklava buk und Halwa kochte für das große Fest, flohen manche zur Nachbarin und bettelten um ein Versteck.

Ein Holzkeil zwischen den Zähnen tat das Übrige

Kemal Özkan selbst war elf, als sie ihn zu Hause in Malatya aufs Bett legten, den Kopf in den Schoss des "Kirve" gedrückt, des Paten, der seinen Schützling trösten und begleiten soll. "Mein Onkel", erinnert Özkan sich, "schaute mich streng an, das war meine Narkose." Ein Holzkeil zwischen den Zähnen tat das Übrige. Einen Monat dauerte es, bis die Wunde verheilt war.

Und jetzt, nach der Erweckung des Kemal Özkan? Singen ein Imam und ein Clown im Duett. Drückt eine kleine Jungenfaust zu den Beats von "Mission Impossible" die Tränen zuerst aus dem linken, dann aus dem rechten Auge. "So!", sagt Kemal Özkan, erhebt sich schnaufend und klopft dem Jungen auf die Schulter: "Jetzt geht's los."

Ahmed heißt der Junge, der ihn nun mit großen Augen anschaut. Familie Kanikci ist aus Amsterdam angereist. "So gut wie hier schneidet in Holland keiner", sagt die Mutter: "Bei Meister Kemal passiert alles wie im Spiel, da vergessen die Kinder ihre Angst." Ahmed ist sieben. Pass bloß auf, haben ihn seine Freunde gewarnt, das ist die Hölle, drei lange Tage kannst du nicht pinkeln. "Was sollen wir tun?", seufzt seine Mutter: "Er glaubt seinen Freunden mehr als uns." Ahmed steht nur da, stumm.

"Ich hatte einen Traum", sagt Kemal Özkan. Inspiriert auch durch das Beispiel der Sultane: Nie glänzte Istanbul mehr als in jenen Tagen, da der Sultan seine Söhne beschneiden ließ. Egal ob beim zweijährigen Ahmed III, beim zwölfjährigen Mustafa II oder beim 16-jährigen Mehmet III - wenn die Prinzen ihre Vorhaut ließen, dann feierte die Stadt sich in einen Rausch.

Bei Mehmet streiten sich die Chronisten, ob das Fest im Jahr 1582 nun 53 oder 55 Tage und Nächte dauerte. Im Jahr 1720 verkochten die Palastköche allein für ihr Baklava-Gebäck 12.088 Kilogramm Honig. Ganze Gärten wurden aus Zucker nachgebaut - Bäume und Pavillons zum Schlecken.

Wie jeder Jude muss auch jeder junge Muslim unters Messer. Im Koran findet sich keine Erwähnung einer Beschneidung, der Brauch ist älter. Angeblich jedoch kam der Prophet Mohammed ohne Vorhaut auf die Welt, und so schreibt die Sunna - die Überlieferung der Worte und Taten Mohammeds - die Beschneidung vor.

Junge Türken als Prinzen verkleidet

Und weil Sunna auf Türkisch "Sünnet" heißt, ist das in der Türkei bis heute das Wort für Beschneidung. Heute gehen fast alle jungen Türken verkleidet als Prinzen durch ihren großen Tag, an der Kappe eine schwingende Feder, in der Hand ein Zepter aus Plastik. Einen Palast aber baute ihnen erst Kemal Özkan: "Kemal Özkans Beschneidungspalast".

Mehr braucht man den Taxifahrern nicht zu sagen. Sie kennen ihn alle und steuern direkt ins Istanbuler Villenviertel Levent. Sieben Familien sind es heute Nachmittag, die Platz genommen haben im kreisrunden Ballsaal. Am Keyboard kämpft sich ein Alleinunterhalter durch ein Medley der neuesten Schlagern, zum dritten Mal an diesem Tag. Vom "Cennet" trällert der Mann, vom "Paradies".

In der Mitte des Raumes fassen sich sieben Jungen und sieben Mütter an den Händen. Sie tanzen miteinander. Die Mütter pressen die Hände ihrer Söhne, als wollten sie diesen letzten Moment unschuldiger Kindheit festhalten.

Ein Clown springt auf die Tanzfläche, bläst in die Trillerpfeife, es fassen sich alle an den Schultern zur Polonaise. Hoch, zur Eisenbahn, die die Wand des Saales entlang fährt. Alle sitzen? Der Zug ruckelt los, der Clown tutet, die Eltern klatschen, und der Keyboarder legt sich ins Zeug. Ein Spektakel, gewiss.

Ein kleiner Schnitt für ihn

"Ich hatte einen Traum", wird Kemal Özkan hinterher erneut sagen, und da liegt, Zeitenwende hin oder her, ein wenig Bedauern in der Stimme. Einen Palast hat er gebaut, gewiss, aber es gab eine Zeit, da schwebte ihm ein ganzes Netz an Palästen vor: Einen großen Saal für jede Region der Türkei, Videoleinwände, die alles in verschiedene Gärten übertragen.

Beschneidungen in der Türkei: In Istanbul kennt jeder Taxifahrer die Kemal Özkans Adresse.

In Istanbul kennt jeder Taxifahrer die Kemal Özkans Adresse.

(Foto: Foto: AP)

"Alle fünf Minuten einen beschneiden, und ihn dann nach Mekka schicken oder in seine Heimatstadt oder auf den Mond - jeden dahin, wo er möchte. Das wollte ich. Jeder Saal sollte seine eigene Musik, sein eigenes Essen bekommen."

Wenigstens Zug und Karussell sind wahr geworden. 74 Jahre alt ist er jetzt, und Grund zur Klage hat er eigentlich nicht. Sieben Jungen schleust er in einer Stunde durch seinen "Palast", 50 Angestellte arbeiten für ihn, er ist eine Legende zu Lebzeiten - schlecht ist das nicht.

Der Reihe nach hat man sie aus dem Zug gepflückt, nun sitzen die Kleinen auf einem großen Sofa auf der Bühne. Der Ober eilt mit einem Korb durch den Saal und verteilt rote und gelbe Kopftücher an die Mütter. Ein Imam betritt die Bühne, nimmt sich das Mikrophon und singt eine Koransure. Meister Kemal stimmt ein.

"Für unsere Republik, für unseren Atatürk, für unsere Märtyrer beten wir. Amen", sagt der Vorbeter. "Und für Herrn Kemal, bei dem wir so Schönes erleben dürfen. Amen." Die Mütter an den Tischen weinen.

Auf dem viel zu großen Sofa sitzt die Riege der Prinzen. Wie die Verteidiger der Freistoßmauer halten sie alle schützend die Hände vor sich. Ihre Augen weit aufgerissen. Ahmed sitzt in der Mitte und schluchzt. Er weiß noch nicht, dass er heute der Letzte sein wird. Die Nummer 116 135.

116.135 Jungen hat Kemal Özkan zum Mann gemacht. Den Enkel von Präsident Turgut Özal ebenso wie die Söhne von Premier Yesut Yilmaz. Er hat an Bord von Flugzeugen beschnitten und in Fußballstadien, wo unter den Augen von Bürgermeistern und Premierministern Hunderte von Jungen gleichzeitig vor ihm antraten: Söhne von Polizisten, Kinder armer Leute, Waisen. Die haben natürlich nichts bezahlt.

150 Beschneidungen auf einmal

Als er in Kasachstan einmal 150 Beschneidungen auf einmal vorgenommen hatte, beendete er sein Tageswerk mit den Worten: "Ich diene der Türkei, ich diene dem Islam." Kameras waren immer dabei. Der Ruhm und das Geschäft folgten ihnen wie von selbst. Die Wände sind tapeziert mit Fotos von Özkan und den Großen der Türkei. In den Garten hat er sich sein eigenes Denkmal bauen lassen, eine Statue, die schon etwas bröckelt.

Der größte der Jungen sitzt nun auf einem Stuhl rechts vom Sofa, Umut heißt er - Hoffnung. Ein Mann in weißem Kittel redet beruhigend auf ihn ein und beugt sich über seinen Schoß. Es ist Özkans Sohn Murat. Heute wird er schneiden. Mit einem Ruck zieht er Umut die Hose herunter bis in die Knie.

Ein Kellner verteilt Pistazien, aus der Orgel des Musikers bellen Diskoklänge, zwischendurch hört man den Vorbeter rufen: "Allah ist groß." "Mein tapferer Sohn", ruft von hinten der ehrwürdige Meister Kemal, "mögest du Premierminister werden." Die Stimme des Vorbeters wird plötzlich lauter. "Clever", flüstert einer der Väter im Saal: "Wenn der Junge anfängt zu schreien, schreit der Imam noch lauter."

Sohn Murat Özkan zückt die Brennnadel

"Allah ist groß", bellen die Lautsprecher. Sohn Murat Özkan zückt die Brennnadel. In seinem Kittel und mit der spiegelnden Glatze sieht er in diesem Moment aus wie ein Scharfrichter. In einer Ecke wackelt eine Clownnase im Rhythmus der Musik.

"Passiert!", verkündet plötzlich einer. Alle klatschen. Hose hoch. Etwas benommen schaut der jüngste Mann im Saal um sich. Kemal Özkan hängt ihm eine Medaille um den Hals, dann darf er davonstaksen, noch leicht betäubt.

In dem Augenblick Tumult auf dem großen Sofa. Der kleine Ahmed springt so schnell er kann mit einem Satz von der Bühne. Der Glatzkopf blickt ihm nach. Die Orgel dreht auf. Ahmed flieht.

Ein kleiner Schnitt für ihn

Beschneidungen in der Türkei: 116.135 Jungen hat Kemal Özkan zum Mann gemacht. Nicht nur in Istanbul, sondern zum Beispiel auch in Kasachstan.

116.135 Jungen hat Kemal Özkan zum Mann gemacht. Nicht nur in Istanbul, sondern zum Beispiel auch in Kasachstan.

(Foto: Foto: AP)

Kemal Özkan schneidet seit fünf Jahren nicht mehr selbst - die Augen. Den Zeremonienmeister macht er weiterhin, die Leute verlangen nach ihm. Seine beiden Söhne schneiden. Der Vater führte sie früh ein. 1500 Leute schauten zu, als der Vater 1980 seinen Ältesten, Murat, beschnitt. Dann drückte er dem frisch Operierten das Skalpell in die Hand - und es war an Murat, seinen kleinen Bruder Levent zu beschneiden.

Vom Vater zum Studium gedrängt

Da war Murat sieben Jahre alt. Später drängte der Vater Murat dazu, Arzt zu werden. Murat studierte Betriebswirtschaft. Immerhin: Levent, der kleine Bruder, ist heute Urologe. "Bestimmt wird er mal Bürgermeister von Trabzon", ruft auf der Bühne der Clown und bittet um Applaus für den nächsten, der die Hose herunterlässt. Die kleinen Schwestern des Patienten laufen um den Stuhl herum und knipsen.

In einer Ecke des Saales, auf dem Schoß des Vaters, kauert Ahmed. "Er fürchtet sich", sagt die Tante. Sie reden ihm gut zu. "Der kommt bestimmt mal ins Parlament", gibt oben der kichernde Clown einem Tapferen mit auf den Weg. "Ich will nicht", brüllt unten Ahmed, "das tut bestimmt weh!" Das Sofa ist mittlerweile leer, kein anderer übrig. "Bringt ihn mir", befiehlt Meister Kemal von der Bühne herab. "Der beruhigt sich schon." Ahmed krallt sich am Stuhl fest. "Neiinn!"

30 Beschneidungen am Tag, sieben Tage die Woche

Sieben Tage die Woche, auch in den Schulferien, bis zu 30 Beschneidungen am Tag, früher waren es 50 - Kemal Özkan zuckt mit den Schultern: So ist das, wenn man älter wird. Die Leute, sagt er, gehen heute wieder mehr in die Krankenhäuser. Überhaupt die Ärzte: neidisch seien viele auf seinen Erfolg. "Sie versuchen diese Tradition hier kaputtzumachen." Er sagt "Tradition". Es soll ihnen nicht gelingen. 116.35 Beschnittene. "Die werden alle Väter und bringen alle ihre Söhne wieder zu mir."

Im Saal bläst der Clown in seine Trillerpfeife. Ein paar der frisch Beschnittenen drehen sich inmitten klatschender Onkel und Brüder, benommen noch, mit den Tanzschritten unbeholfener Roboter. Einer der Väter eilt vorüber, unterm Arm ein schreiendes, zappelndes Bündel. Ahmed ist nun auch ein Mann.

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