Berlin-Kreuzberg:Wo Protest auch immer ein bisschen Party ist

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Es lebe das Grünzeug: Die Nachbarn des Gemüsehändlers gehen seit Wochen auf die Straße, um zu erreichen, dass sein Laden bleiben kann. (Foto: David Gannon/AFP)

Türkische Einwanderer, Wehrdienstverweigerer und Leute, die aus Süddeutschland flüchteten - das war Kreuzberg vor 30 Jahren. Heute werden Gemüsehändler aus dem Viertel vertrieben. Die Anwohner wehren sich auf Kreuzberger Art.

Von Verena Mayer, Berlin

Der Gemüsehändler Ahmet Çalışkan steht im schwarzen Anzug in seinem Laden, als wolle er nicht Tomaten, Pilze und Melonen verkaufen, sondern zu einer Beerdigung gehen. In gewisser Weise muss er das auch. Ahmet Çalışkans Mietvertrag wurde gekündigt, er wird seinen Gemüseladen in Berlin-Kreuzberg verlieren. Den er vor 28 Jahren aufgebaut hat und der ein ganzes Viertel versorgt, als einer der letzten türkischen Familienbetriebe im Kiez. "Bizim Bakkal" steht auf einem gelb-grünen Schild. Das heißt: unser Laden.

Çalışkan, 55, weißes Haar, buschige Augenbrauen, versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie nahe ihm alles gerade geht. Er rückt Körbe mit Zucchini und Möhren zurecht, guckt auf die Säckchen mit Pistazien und Datteln, streichelt das Baby auf dem Arm einer Kundin. Seit ein Uhr früh ist Çalışkan auf den Beinen, da fährt er täglich zum Großhandel. Kauft ein, liefert Gemüse, und dann steht er bis 20 Uhr im Laden, seine Frau Emine und die beiden Kinder helfen ihm.

Çalışkan zieht den Duft von frischen Ananas und Tomaten ein, als könne ihn der vertraute Geruch stark machen. Dann sagt er, dass er um seinen Laden kämpfen wolle. "Bis zur letzten Sekunde." Çalışkan stammt aus Burdur in der Türkei, aber wenn er Deutsch redet, hört man nur einen leichten Akzent. Ahmet Çalışkans Heimat ist längst Kreuzberg.

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Vor drei Jahrzehnten war alles arm und räudig

Die Wrangelstraße in der Nähe der Oberbaumbrücke, eine der beliebtesten und belebtesten Gegenden der Hauptstadt. Junge Leute, viele Touristen, Hostels, Bars und Läden, von denen man nicht sagen kann, ob sie noch eine Weinhandlung sind oder schon ein Showroom für Design.

Als Çalışkan vor drei Jahrzehnten nach Kreuzberg kam, war hier alles arm und räudig. Man lebte im Schatten der Mauer vor sich hin, Studenten, Wehrdienstverweigerer und Leute, denen in Süddeutschland die Decke auf den Kopf gefallen war. Dazwischen die Einwanderer aus der Türkei, die arbeiteten, Kinder großzogen, Läden aufbauten. "Little Istanbul" wurde die Ecke genannt. Heute zieht das kleine Istanbul vor allem große Immobilienfirmen an. Kreuzberg, laut Statistik einer der ärmsten Bezirke Berlins, ist inzwischen zu einer der teuersten Wohnlagen geworden.

So auch der helle Altbau, in dem Çalışkan seinen Laden hat. Ein Investor kaufte das Haus, wegen des "zügig realisierbaren Wertsteigerungspotenzials", wie es auf der Homepage heißt. Äußern will sich in der Firma keiner, klar ist nur, dass die Wohnungen in Eigentum verwandelt und verkauft werden sollen. Çalışkans Gewerbemietvertrag wurde gekündigt, im September ist Schluss. In Kreuzberg ist so etwas inzwischen Alltag.

Doch Kreuzberg wäre nicht Kreuzberg, wenn man das einfach hinnehmen würde. Und so sind über die Wrangelstraße riesige Transparente gespannt, und jede Woche ziehen sie von überallher vor den Gemüseladen. Mit Parolen und Schildern, auf denen man "Bizim Bakkal bleibt" liest oder auch "Wir sind Gemüseladen". Tatsächlich sind hier alle Gemüseladen, Mittwochabend drängen sich wieder Hunderte Leute in der Wrangelstraße zusammen. Eltern mit umgeschnallten Babys, Frauen mit Kopftüchern, Jungsgruppen, die auf ihren Handys Musik laufen lassen. Viele Kinder haben selbstbemalte Transparente aus Stoff um die Schultern geknotet.

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In den Kneipen hier geht viel Augustiner-Bier aus München über die Theke

Als er die Kündigung erhielt, hat Çalışkan erst versucht, mit den neuen Eigentümern zu verhandeln. Erfolglos. Irgendwann hat er den Kunden sein Leid geklagt, bei einem Schwätzchen, wie er es gern unter der orangefarbenen Markise oder an der Theke hält, er verkauft auch marinierte Oliven, frischen Schafskäse und türkischen Kaffee, für die neuen Kühlschränke hat er eben Tausende Euro bezahlt. Ein Lehrer aus dem Kiez bekam das mit, der Rest war Kreuzberger Routine, die so alt ist wie Çalışkans Laden. Arbeitsgruppen und Gesprächskreise bildeten sich, Protest wurde organisiert, die Website "bizim-kiez.de" aufgeschaltet. Und so stehen alle an diesem lauen Juniabend zusammen und klatschen, als ein Mann in ein Megafon ruft: "Wenn ausverkauft wird, müssen wir den Leuten unter die Arme greifen!" Eines hat der Gemüseladen schon mal geschafft: Er ist der Liebling von Kreuzberg.

Bezirkspolitiker sind gekommen, die Läden in der Straße helfen mit Stühlen und Lautsprechern aus. Ansonsten geht in den Kneipen hier viel Augustiner-Bier aus München über die Theke, in der Wrangelstraße ist eine zahlungskräftige Klientel angekommen. Eine Frau erzählt, dass sie an diesem Mittwoch schon einmal bei einer Demonstration war. Ein paar Straßen weiter sollte eine Wohnung zwangsgeräumt werden, eine Familie, die Hartz IV bezieht, kann sich die hohe Miete nicht mehr leisten. Zwei Frauen, die sich auf Türkisch unterhalten und sich eine Fantaflasche und Pistazien reichen, nicken. Eine sagt, dass sie um die Ecke selbst einen Zeitungsladen habe. Sie wird ihn ebenfalls bald verlieren.

Ahmet Çalışkan geht indessen in seinem schwarzen Anzug durch die Menge und schüttelt Hände. Sein zerfurchtes Gesicht hat sich etwas aufgehellt, er sagt, dass er sich freue über die vielen Leute hier. "Damals, als ich kam, war Kreuzberg schön, jetzt ist es anders, aber noch immer schön." Die Band IG Blech spielt auf ihren Blasinstrumenten, die ersten beginnen zu tanzen, Protest ist in Kreuzberg ja immer auch ein bisschen Party. Dass es genau diese Kreuzberger Mischung ist, weswegen alle hierher wollen und ein türkischer Gemüseladen von hier weg muss - diesen Widerspruch werden aber wohl auch die Demonstranten nicht auflösen.

© SZ vom 19.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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