Baden-Baden:"Das überschreitet die Vorstellungskraft"

  • Schaulustige haben einen Mann auf einem Hotelvordach in Baden-Baden zum Sprung in die Tiefe aufgefordert.
  • Der Mann habe sich in einer seelischen Ausnahmesituation befunden, teilte die Polizei mit.
  • Das Verhalten der Gaffer habe "selbst erfahrene Polizeibeamte erschaudern lassen".

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Patrick Bergmann, Sprecher des Polizeipräsidiums Offenburg, gibt normalerweise keine Meldungen über Selbsttötungsversuche heraus. Zu groß ist die Gefahr, Nachahmer zu ermuntern. Was er aber am Dienstagmorgen in den Einsatzberichten der Kollegen las, bewog ihn, eine Ausnahme von der Regel zu machen. In Baden-Baden hatte sich am Abend zuvor eine etwa fünfzigköpfige Menge vor einem Mann versammelt, der von einem Hoteldach zu springen drohte. Die Leute am Boden beließen es offenbar nicht dabei, den Mann und die als Retter herbei geeilten Polizisten zu filmen. Nein, mehrere aus der Menge forderten den Mann mit gezücktem Smartphone auf, er solle doch gefälligst springen.

Dieses Verhalten habe "selbst erfahrene Polizeibeamte erschaudern lassen", schrieb Polizeisprecher Bergmann in seinen Bericht. "Es ist eine Schwelle überschritten worden, die die Vorstellungskraft übersteigt."

Zweifellos bedeutet es eine neue Qualität von Smartphone-Voyeurismus, das Unglück anderer Menschen nicht nur zu filmen und zu posten, sondern dem Unglück auch noch nachzuhelfen - für ein paar Facebook-Likes mehr. Strafrechtlich sei nichts zu machen gegen diese Menschen, sagt Bergmann, denn die Kollegen seien im Einsatz nicht behindert worden. Und selbst wenn das Strafrecht gegen Gaffer angewandt werden könnte: Meist haben die Polizisten keine Zeit und keine Möglichkeit, die Personalien aufzunehmen.

Am Montagabend in Baden-Baden gelang es den Beamten immerhin, den Hotelgast vom Dach zu schaffen und in eine Fachklinik zu bringen. Er habe sich in einer seelischen Ausnahmesituation befunden, hieß es. Aber ob den Gaffern noch zu helfen ist?

Die Polizei ist mit dem Latein am Ende. Die Leute wollen ihre "Trophäe"

Das Gafferwesen treibt immer neue, traurige Blüten. In Hagen/Westfalen filmten smartphonebewehrte Menschen ein sterbendes Kleinkind, das von einem Auto angefahren worden war. Einige forderten die Polizisten auf, beiseite zu treten, andere kamen angelaufen, um über die Absperrung hinweg zu filmen. Die Beamten hatten Mühe, Platz zu machen für den Rettungshubschrauber. "Schämt euch, ihr Gaffer!", postete die Polizei hinterher auf Facebook. In Oberfranken behinderten Schaulustige die Rettungskräfte auf ihrem Weg zur Unfallstelle, als Anfang Juli auf der A 9 in einem brennenden Reisebus 18 Menschen starben. Nur wenige Tage später kam es in der Nähe von Baden-Baden, auf der A 5 zu einem ähnlichen Vorfall.

Der Fahrer eines Jeeps war tödlich verunglückt, seine Beifahrerin musste aus dem Fahrzeug befreit werden. Doch die Retter kamen kaum voran, weil die Autofahrer nur schleppend eine Gasse bildeten. Einige Hundert Meter vor dem Ziel ging dann gar nichts mehr. Als die Feuerwehrleute die Autofahrer baten, Platz zu machen, wurden sie beschimpft, beleidigt, sogar bedroht. Der Kommandant sagte dem SWR: "Das war kurz vor der Körperverletzung." Er zeigte sich erschüttert. Auf dem Land, wo er herkomme, sei es eigentlich üblich, Menschen in Not zu helfen.

Nun werden Gesetze verschärft, Bußgelder erhöht. Aber ob sich damit der menschliche Urtrieb bändigen lässt, sich am Leid der anderen zu weiden, der nun durch das Smartphone noch befeuert wird? Das sei eher eine Frage für Psychologen, sagt Polizeisprecher Bergmann aus Offenburg. Die Beamten könnten nur immer wieder versuchen, an die Vernunft zu appellieren. Aber die Leute wollten eben ihre "Trophäe" haben.

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