Bad Aibling:6.15 Uhr: Edelsteine gekauft

Fortsetzung Prozess Zugunglück Bad Aibling

Der Fahrdienstleiter Michael P. (l) im Sitzungssaal des Landgerichts Traunstein mit seiner Anwältin Ulrike Thole.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Am fünften Tag des Bad-Aibling-Prozesses geht es vor allem um das Handyspiel des Angeklagten. Und die Frage: Wie stark beeinträchtigt gerade dieses Spiel die Aufmerksamkeit?

Von Annette Ramelsberger, Traunstein

Am Morgen des Bahnunfalls von Bad Aibling hat der verantwortliche Fahrdienstleiter intensiv mit seinem Handy gespielt, und zwar eineinhalb Stunden lang. Er begann schon vor seinem Dienstantritt um 4.45 Uhr, spielte auch während des Dienstes - und hörte erst um 6.45 Uhr und 59 Sekunden auf, eine Minute vor dem Zusammenstoß der beiden Regionalzüge auf der eingleisigen Strecke. Das geht aus dem Gutachten des Diplomingenieurs Dennis Pielken hervor, der das Handy des Angeklagten untersucht hat; Pielken stellte das Gutachten am Donnerstag vor. Dem Fahrdienstleiter Michael P. wird vorgeworfen, durch sein Handyspiel am 9. Februar abgelenkt gewesen zu sein und dadurch verhängnisvolle Fehler gemacht zu haben, die zwölf Menschen das Leben kosteten.

Die Richter am Landgericht Traunstein arbeiten sich an diesem fünften Verhandlungstag in eine fremde Fantasy-Welt ein: Sie erfahren, dass der schwergerüstete Kämpfer, der mit seinem mannsgroßen Schwert auf dem Handybildschirm des Fahrdienstleiters herumwedelt, Mitkämpfer rekrutieren kann, dass er Waffen kaufen und Edelsteine verkaufen kann - alles, um noch stärker zu werden und mehr Gegner besiegen zu können. Dieses Spezialwissen ist wichtig, weil der Angeklagte Michael P. all das in den Minuten vor dem Unglück getan hat: Von 6.09 Uhr bis 6.40 Uhr hatte er sieben verschiedene Spielsessions, vier hat er erfolgreich beendet, drei wurden unterbrochen; warum, kann der Sachverständige nicht mehr nachvollziehen. Am wahrscheinlichsten, sagt er, ist, dass durch zu viele Angriffe die Lebensenergie des virtuellen Kämpfers sank und der Spieler deswegen aufhörte. Das kann recht schnell gehen. Als der Sachverständige das Spiel vorführt, heißt es schon nach Kurzem: "Du bist tot!" Eine Minute ohne Aktion auf dem Bildschirm, und schon kann das Spiel vorbei sein.

In der kritischen Zeit war Michael P. zu 72 Prozent mit dem Handyspiel beschäftigt

Laut Gutachter rekrutierte der Fahrdienstleiter während seiner Dienstzeit um 6.09 Uhr einen Mitspieler. Um 6.12 Uhr verkaufte er Dinge aus seinem Krieger-Inventar, um 6.15 Uhr erwarb er Edelsteine. Um 6.17 Uhr begann die zweite Spielsession, die unterbrach er allerdings nach 62 Sekunden. Es folgten Spiel drei, vier und fünf. Da war der Angeklagte sogar knapp vier Minuten in seine Welt abgetaucht. Um 6.35 Uhr startete das sechste Spiel, um 6.38 Uhr das siebte. 116 Sekunden ist der Angeklagte dann in seiner Fantasy-Welt, bis 6.40 Uhr und 47 Sekunden. Von da an ist keine Aktion mehr zu verzeichnen. "Es könnte sein, dass das Handy abgelegt worden ist", sagt der Sachverständige. Vielleicht war der Fahrdienstleiter aber auch einfach mit seiner eigentlichen Arbeit beschäftigt. Denn da hatte er bemerkt, dass er einen Fehler gemacht hatte und versuchte dann, ihn wieder auszuwetzen - was zu immer neuen Fehlern führte.

Der Neuropsychologe Alexander Brunnauer legte die Spiele-Sessions und die Diensthandlungen des Fahrdienstleiters übereinander. In der kritischen Zeit zwischen 6.09 Uhr und 6.40 Uhr war er zu 72 Prozent mit dem Spiel beschäftigt. Vor allem beim Stellen der Fahrstraßen auf der eingleisigen Strecke. Als er den falschen Knopf auf dem Notruftelefon drückte, spielte er aber nicht.

Der Neuropsychologe hat Michael P. untersucht, er habe ein durchschnittliches bis überdurchschnittliches Aufmerksamkeitsvermögen, er könne auch komplexe Aufgaben gut lösen. Allerdings habe er von Beginn des Jahres bis zum Unfallzeitpunkt immer mehr und immer länger gespielt. "So ein Spiel hinterlässt seine Spuren in der Leistungsfähigkeit", sagte der Psychologe. Auch wenn das Spiel schon beendet ist.

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