Attacke oder Vortäuschung:Hilflos in Mittweida

Ein Ort und der Kampf gegen die Neonazis: Hat sich eine 18-Jährige selbst zum Opfer gemacht?

Arne Boecker

Mittweida - Ein junger Mann schlendert über den Markt, die Haare trägt er ganz kurz, und am Ort ist er kein Unbekannter. "Der gehört zu den anderen", flüstert ein Polizist seinem Nebenmann zu. Mit einem verächtlichen Blick streift der Junge die Menschenmenge, die sich an diesem Samstagmorgen versammelt hat. Dann betritt er den Supermarkt neben dem Rathaus. Als der Kurzgeschorene vom Einkauf zurückkehrt, balanciert er vier Flaschen Bier in seiner linken Armbeuge, zwei hat er sich in die Finger der rechten Hand geklemmt. Ein Parkplatz in der Nähe gilt als Treff der Neonazis von Mittweida.

Attacke oder Vortäuschung: In Mittweida stoßen Welten aufeinander. Während die einen Stolpersteine zum Gedenken an verfolgte Juden in der Kleinstadt verlegen, stehen Mitglieder der Neonazi-Kameradschaft "Sturm 34" wegen rechter Straftaten vor Gericht.

In Mittweida stoßen Welten aufeinander. Während die einen Stolpersteine zum Gedenken an verfolgte Juden in der Kleinstadt verlegen, stehen Mitglieder der Neonazi-Kameradschaft "Sturm 34" wegen rechter Straftaten vor Gericht.

(Foto: Foto: ddp)

Die Kurzgeschorenen und die Nachdenklichen, das sind zwei Welten in der westsächsischen Kreisstadt; zwei Kulturen, die sich wenig zu sagen haben. Mehrere Dutzend Bürger demonstrieren an diesem Morgen, dass sie den Terror der Nazis nicht vergessen haben. Zum Gedenken lassen sie "Stolpersteine" in das Pflaster ein.

Zwei sind Frieda Bach und ihrem Sohn Herbert gewidmet, die im selben Haus, in dem heute der Supermarkt untergebracht ist, ihr Kaufhaus betrieben. Frieda Bachs Spur verliert sich 1942 in einem jener Lager, in die die Nazis Juden sperrten; Herbert Bach war schon 1937 nach einer willkürlichen Verhaftung aus einem Fenster des Amtsgerichts in den Tod gesprungen. "Was hier heute stattfindet, das ist Mittweida", sagt einer der Redner. Es soll überzeugend klingen.

Wer sich in der Stadt länger umschaut, könnte auch zu einem anderen Schluss kommen. Eine hässliche Attacke auf eine junge Frau namens Rebecca rückte die Stadt in die Schlagzeilen. Die Geschichte klang auch deswegen plausibel, weil ein Neonazi-Trupp Mittweida bis vor kurzem in Angst und Schrecken versetzt hat. Doch nun mehren sich Zweifel, ob die heute 18-jährige Rebecca K. die Wahrheit gesagt hat.

Ihre Geschichte spielt Ende November 2007 und geht so: Mitten in einem Wohnviertel habe sie ein fünfjähriges Mädchen in Schutz genommen, das von Neonazis belästigt worden sei, das Mädchen habe aus einer Aussiedlerfamilie gestammt. Schließlich hätten die Angreifer ihr, Rebecca K., mit Messern ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt. Wegen ihres mutigen Eingreifens wurde sie bereits als Heldin gefeiert.

Das bundesweit tätige "Bündnis für Demokratie für Toleranz" zeichnete das Mittweidaer Mädchen mit einem Ehrenpreis aus. Dann allerdings tat sich die Polizei schwer, Belege für Rebeccas Geschichte zu finden. Überdies hielt es ein Gutachter für wahrscheinlich, dass sich die junge Frau die Haut selber geritzt hat. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz hat Rebecca K. kürzlich wegen "Vortäuschung einer Straftat" angeklagt. Die junge Frau bleibt jedoch bei ihrer Darstellung.

Unterdessen stehen vor dem Landgericht Dresden fünf junge Männer, die der Neonazi-Kameradschaft "Sturm 34" angehören. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel daran, dass dieser radikalen Organisation eine Vielzahl der Straftaten zugerechnet werden muss, die die Mittweidaer in den vergangenen Jahren einschüchterten. Weil die Neonazis eine "national befreite Zone" schaffen wollten, griffen sie Andersdenkende an und verübten Brandanschläge auf Imbissstände von Ausländern. Das Landgericht muss den Angeklagten jedoch einzelne Straftaten zuordnen und nachweisen.

Von Normalität kann man in Mittweida also kaum sprechen. "Nur weil einige Sturm-34-Mitglieder vor Gericht stehen, ist der Rechtsextremismus nicht aus der Region verschwunden", sagt Bürgermeister Matthias Damm (CDU). "Immerhin kann die Polizei viel besser gegen die Neonazis vorgehen, seit das Innenministerium die Kameradschaft verboten hat." Die Zahl rechtsextremistischer Straftaten sei seitdem drastisch gesunken. Einerseits. Andererseits habe der Einzug der NPD in den sächsischen Landtag die Konflikte angeheizt, sagt Damm. "Mancher glaubt, dass damit rechtextremistisches Gedankengut legalisiert wurde. Die Bürger fragen sich: Warum bekommt die NPD Geld vom Staat?"

Erst einmal die Fakten prüfen

Vor dem Fall Rebecca K. gab es Zeichen der Hoffnung. Viele Bürger wollten dem Treiben der Neonazis vom "Sturm 34" nicht länger tatenlos zusehen. Unter anderem startete das Bündnis für Mittweida zahlreiche Initiativen. "Dann kam der Fall Rebecca", seufzt Bürgermeister Damm, "und hat uns als Nazi-Stadt stigmatisiert." Damm bestand von Beginn an darauf, erst die Fakten über den Überfall zu prüfen und dann zu urteilen. Dieser Linie bleibt er treu. Heute weigert er sich, das Mädchen zu verdammen, bevor es vor Gericht steht. Die Richter müssten Rebecca K. nachweisen, gelogen zu haben, sagt auch Marcus Eick vom Mittweidaer "Bündnis für Toleranz".

Die Frage, wer Rebecca K. das Hakenkreuz eingeritzt hat, hat über Mittweida hinaus Streit ausgelöst. Der sächsische CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer forderte, Rebecca K. "und ihre Hintermänner" zu bestrafen, wenn sie eine Straftat vorgetäuscht hätten. Kretschmer stellte in den Raum, ob "Linksextremisten mit am Werk" gewesen seien. Schließlich sei bekannt, dass sich Extremisten gegenseitig provozierten, um ihre Anhänger zu motivieren.

Mit dieser "Schauprozess-Rhetorik" widerspreche Kretschmer dem "rechtsstaatlichen Prinzip, keine Vorverurteilungen vorzunehmen", entgegnete Johannes Lichdi, innenpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne im Landtag. Neonazis halten sich nicht an Lichdis Rat: Im Internet schütten sie kübelweise Häme und Spott über Rebecca K. und ihre Unterstützer aus. Die Linke sei nicht nur "verblendet durch die Hetzpresse, sondern auch irre und geistesgestört", schreibt ein Kommentator namens "Faktor Deutschland" auf der rechtsextremistischen Seite Altermedia und rät: "Zur Selbstverteidigung: Sport frei!".

Es ist vielleicht ganz gut, wenn jetzt erstmal Juristen das Wort haben. Das Amtsgericht Hainichen muss entscheiden, ob es ein Hauptverfahren gegen Rebecca K. auf den Weg bringt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: