Anschlag in New York:"Wir wussten, dass irgendwann so was passieren muss"

Der Terror schien in New York zuletzt weit weg. Nach dem Anschlag sagen Bewohner: Die bittere Gewissheit, dass die Gewalt wieder ihre Stadt trifft, war immer da.

Von Johanna Bruckner, New York

Der Ort, an dem die Todesfahrt von Sayfullo Saipov endete, ist auch am Tag nach der Attacke noch weiträumig abgesperrt. "Active crime scene", laufende Ermittlungen am Tatort, sagt der Polizist am Absperrband. Einen Block entfernt kam der geliehene weiße Pick-up-Truck mit dem orangefarbenen Logo einer Baumarktkette zum Stehen. Acht Menschen hatte er zuvor erfasst und tödlich verletzt. Im Rücken der Journalisten und Schaulustigen, die hinter der Absperrung Stellung bezogen haben, ragen die weißen Streben der 9/11-Gedenkstätte in den New Yorker Novemberhimmel. Die Anschlagsorte vom 11. September 2001 und dem 31. Oktober 2017 liegen keinen Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Der Terror ist zurück in New York - oder war er vielleicht nie weg?

"Es gab so viele Vorfälle in letzter Zeit", sagt Jae, "als ich die SMS von der Uni bekommen habe, dachte ich erst, das ist ein Halloween-Scherz." Das Borough of Manhattan Community College (BMCC) liegt gegenüber der Stuyvesant High School, wo der Attentäter gestoppt wurde. Jae studiert hier Informatik. Wie viele Bildungseinrichtungen in den USA informiert das College seine Studenten per SMS und E-Mail über mögliche Gefahren. Die Benachrichtigung, die Jae am Dienstagnachmittag bekommt, ist kurz und klingt routiniert: "Es gibt aktuell keine Bedrohungslage für den BMCC-Campus. Die Kurse finden wie gewohnt statt. Meiden Sie die West Street. Antworten Sie mit 'Hilfe', wenn Sie Hilfe benötigen." Versendet wurde die SMS um 17.14 Uhr - zu diesem Zeitpunkt war schon klar, dass es sich bei dem aktuellen Vorfall höchstwahrscheinlich um einen Terroranschlag handelt.

Jae, 30 Jahre, geboren in Südkorea, lebt seit sechs Jahren in den USA. Er ist erst vor zwei Monaten nach New York gezogen - davor hat er in Las Vegas gelebt. Als ein Scharfschütze dort am 1. Oktober das Feuer auf die Besucher eines Musikfestivals eröffnete und 58 Menschen tötete, wohnte Jae bereits Tausende Kilometer entfernt. "Freunde von mir waren auf dem Konzert", erzählt er, "sie wurden verletzt, aber nichts Schlimmes." Dass nun wieder Menschen Opfer eines Anschlags wurden und dass sie ihm abermals so nah sind - wenn auch nur räumlich - beschäftigt den jungen Mann. Jae will reden, über die Selbstverständlichkeit, mit der die Öffentlichkeit und auch er selbst mittlerweile solchen Bluttaten begegnet. "Dauernd ist irgendwas, man nimmt es schon gar nicht mehr ernst. Als ich noch in Las Vegas gewohnt habe, habe ich mal eine SMS von der Schule bekommen, dass auf dem Schulgelände geschossen wird - wir haben nur mit den Schultern gezuckt. Am Ende war es mal wieder falscher Alarm. Aber was ist, wenn es doch mal stimmt?"

"Sirenen ist man in Manhattan ja gewohnt"

Dann verabschiedet sich Jae in die Uni. Die Studenten müssen heute den Hintereingang über den Washington Market Park nehmen, ansonsten herrscht hier wieder Alltag. Im Park spielen Kinder zwischen großen und kleinen Deko-Kürbissen, viele der eingeschnitzten Halloween-Fratzen sind schon ein bisschen eingefallen. Mariana, Anfang 20, Sonnenbrille, Kinderwagen, ist beruflich hier: Sie arbeitet als Kindermädchen, im Buggy sitzt die zweijährige Meadow. Zum Zeitpunkt des Anschlags sei sie nicht im Park gewesen - "die Kinder haben zu Hause Mittagsschlaf gemacht", erzählt sie. Die Familie, für die Mariana arbeitet, wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Anschlagsort. Sie habe die Sirenen gehört, aber sich zunächst nichts gedacht, erzählt sie, "Sirenen ist man in Manhattan ja gewohnt".

Fühlt es sich anders an, heute in den Park zu kommen? Mariana überlegt: "Einerseits war der Terroranschlag überraschend, ein Schock. Andererseits: Wir wussten, dass irgendwann sowas passieren muss." Viele New Yorker teilen dieses Gefühl: Sie haben die islamistischen Anschläge in Europa aus der Ferne wahrgenommen. Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, London. Und sie haben sich darauf eingestellt, dass es wohl auch irgendwann wieder ihre Stadt treffen wird. New York ist ein Sehnsuchtsziel für Millionen, eine Metropole mit Symbolkraft. 2001 wurde die Stadt in bis dato nicht gekannter Art und Weise angegriffen, sie hat sich davon erholt und gilt heute mehr denn je als Ort von Freiheit und Toleranz. Sie hat sich ihre Unbeschwertheit zurückerobert.

Dass viele Touristen New York heute auf dem Fahrrad erkunden, mag ein Beleg dafür sein. In Manhattan gibt es gefühlt an jeder zweiten Straßenecke Stationen für Leihfahrräder, selbst Hollywoodstar Leonardo DiCaprio wurde schon auf den blauen Fahrrädern fotografiert, die von einer Großbank gesponsert werden. Heute zeugen Fotos von brutal verbogenem, blau lackiertem Metall von der Erbarmungslosigkeit, mit der Sayfullo Saipov handelte. Dass er seinen Pick-up-Truck ausgerechnet auf einen Radweg steuerte, hat - beabsichtigt oder nicht - eine hohe Symbolkraft: Sein Ziel war das moderne, nachhaltige New York.

Sicherheit? Für Tania war sie schon länger trügerisch. Sie wohnt an der West Street, nördlich der Stuyvesant High School, hier sind die Absperrungen am Mittwochmorgen schon weitgehend aufgehoben. Tania zieht einen Einkaufswagen hinter sich her, sie ist auf dem Weg zum Supermarkt. "Als Fußgänger oder Radfahrer ist man ein leichtes Ziel, das weiß man seit den Anschlägen in Europa", sagt sie. "Ich habe meinem Mann und meinen Söhnen verboten, auf dem Fahrrad Kopfhörer zu benutzen - man bekommt ja sonst nicht mit, was hinter einem passiert."

Noch am Samstag war sie mit ihrer Familie auf jenem Radweg unterwegs, der jetzt von Polizisten bewacht wird. Der Radweg ist rechts und links von erhöhten Grünstreifen eingesäumt - sie sollen die Fahrradfahrer eigentlich vor dem Verkehr schützen. Am Mittwoch wurde die Befestigung zur tödlichen Falle.

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