Anschlag in Essen:Wie aus einem Kind ein Attentäter wurde

Prozess zu Anschlag auf Sikh-Gebetshaus

Das Sikh-Gebetshaus in Essen wurde Ziel eines Anschlags von islamistischen Jugendlichen.

(Foto: dpa)

Mit 16 deponiert Yusuf eine Bombe vor einem Sikh-Tempel in Essen, nun steht er vor Gericht. Seine Mutter hat ein Buch über seine Radikalisierung geschrieben.

Von Anna Fischhaber

"Ich habe Mist gebaut, Mama", sagt Yusuf hinterher zu seiner Mutter. Mist klingt ziemlich niedlich angesichts des Verbrechens, dass er begangen haben soll. Die Tat des damals 16-Jährigen aus Gelsenkirchen gilt als der erste erfolgreiche islamistisch motivierte Sprengstoffanschlag in Deutschland. Yusuf soll im April 2016 vor einem Sikh-Tempel in Essen einen Feuerlöscher mit Sprengstoff deponiert haben. Die Wucht der Detonation zerstörte die Eingangstür des Gebetssaals. Im Inneren erlitt ein Priester Brandverletzungen und einen offenen Bruch am Fuß, zwei Gemeindeglieder kamen mit Schnittverletzungen davon. Erst kurz vorher war in dem Saal eine indische Hochzeit mit vielen Gästen gefeiert worden.

Yusuf sitzt seit dem Anschlag in Untersuchungshaft. Nun beginnt der Prozess gegen ihn und seine zwei jugendlichen Komplizen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen versuchten Mord vor. Hinzu kommen gefährliche Körperverletzung, Herbeiführen einer Explosion und Sachbeschädigung. Wie so viele, die das blutige Werk des sogenannten Islamischen Staates verüben, sind die Attentäter jung, sehr jung.

Die Polizei nennt sie "Terroristen", beim Landgericht Essen ist man vorsichtiger. Die Rede ist von Jugendlichen, alle in Deutschland geboren, die sich über soziale Netzwerke kennenlernten und gemeinsam radikalisierten. Die aus dem Kinderzimmer ihren Anschlag gegen Ungläubige planten und die Chemikalien für ihren Sprengsatz im Internet bestellten. Und danach weinend ihren Müttern davon berichteten, weil sie angeblich nicht wussten, dass in dem Tempel gerade eine Hochzeit stattgefunden hatte. Zumindest ist das die Version von Neriman Yaman, der Mutter von Yusuf. Kurz vor dem Prozess ist ihr Buch "Mein Sohn, der Salafist" erschienen. Sie beschreibt darin, wie aus Yusuf ein Attentäter wurde. Nicht plötzlich, sondern Schritt für Schritt.

Neriman Yaman hat geahnt, dass etwas passieren würde. Hören wollte das offenbar niemand. Das betont sie in ihrem Buch immer wieder: "Ich war mittlerweile mit den Nerven vollkommen am Ende. Ich konnte nicht mehr. Ich wusste nicht, was ich noch tun sollte. Ich habe mit Imamen gesprochen, ich habe mit Psychologen gesprochen, ich habe mit der Schule gesprochen, ich habe mit der Polizei gesprochen, ich habe mit (dem Aussteigerprogramm) Wegweisern gesprochen. Aber niemand konnte etwas tun. Und Yusuf driftete immer mehr ab."

Es ist ein berührendes Buch. Ein Buch über ein schwieriges Kind und ein wenig auch über die eigenen Fehler. Hätte sie strenger sein müssen, fragt sich die Mutter. Hätte sie sich mehr Zeit nehmen müssen? Und hätte das eine solche Tat wirklich verhindert? Interviews darüber gibt Neriman Yaman inzwischen keine mehr, nachdem ihr eine Zeitung vorgeworfen hatte, den Sohn zu den Salafisten gebracht zu haben. Denn im Fall von Yusuf beginnt alles mit Prediger Pierre Vogel. Und den hat ausgerechnet die Mutter dem Sohn empfohlen.

Eine Art Gotteserlebnis

Gläubig sei sie schon, aber eben nicht streng religiös oder dogmatisch. Darauf legte Neriman Yaman bei ihren öffentlichen Auftritten Wert. Ihre Großeltern kommen als Gastarbeiter aus der Türkei nach Gelsenkirchen, sie selbst wächst relativ liberal auf: Als 15 ist, trägt sie zum Kopftuch zerrissene Jeans - für beide Kleidungsstück habe sie sich freiwillig entschieden. Um im Lebensmittelladen der Familie zu helfen, bricht sie die Schule ab. Beim Besuch in der Heimat findet sie einen Mann, der mit ihr nach Deutschland zieht.

Für ihre zwei Kinder haben die beiden wenig Zeit, von morgens bis abends schuften sie im Laden. Die jüngere Tochter entwickelt sich gut, Yusuf dagegen ist bereits als Kind verhaltensauffällig. Im Kindergarten tut er alles, um Aufmerksamkeit zu bekommen, in der Schule häufen sich die Probleme. Yusuf ist schlau, aber anpassen will er sich nicht. Mit 14 raucht er ständig Wasserpfeife, bis er im Rauschzustand glaubt, eine Art Gotteserlebnis zu haben, und sein Leben plötzlich ändern will.

Die Erleichterung der Mutter ist nachvollziehbar, als der schwierige Sohn die Shisha auf den Dachboden räumt und den Koran dem Gangsta-Rap vorzieht. Weil Yusuf weder Türkisch noch Arabisch spricht, empfiehlt ihm die Mutter sogar einen deutschen Prediger, von dem die Nachbarin erzählt hat: Es ist ausgerechnet der charismatische Deutschkonvertit Pierre Vogel. Im Netz sieht Yusuf weitere Videos von ähnlichen Predigern. Längst haben die Salafisten ihre Arbeit aus den Hinterhöfen ins Internet verlagert und bieten jungen Muslimen, die auf der Suche sind, Antworten auf alle Fragen des Islam.

"Ich erkannte meinen eigenen Sohn nicht mehr"

Von hier an liest sich Yusufs Geschichte wie die Geschichte zahlreicher junger Menschen, die sich in Deutschland radikalisieren. Bald verteilt der damals 14-Jährige bei "Lies"-Aktionen der gerade verbotenen Salafistenvereinigung "Die wahre Religion" Korane, trägt Turban in der Schule und hält dem Imam seiner Moschee und der Familie Predigten. Über den schädlichen Einfluss von Musik, über falschen Glauben und darüber, dass sie alle in die Hölle kommen. "Ich erkannte meinen eigenen Sohn nicht mehr. Er hatte sich innerhalb weniger Wochen komplett verändert", schreibt Neriman Yaman.

Es wirkt so, als wolle sie jetzt gut machen, was sie zuvor verpasst hat. Die Mutter telefoniert Moscheen ab, will, dass ein Imam ein theologisches Gespräch führt mit dem Sohn, der nur noch in religiösen Versen mit der Familie kommuniziert. Doch niemand hilft. "Vertrauen Sie auf Allah", rät man ihr stattdessen. Beratungsstellen kennen solche Erfahrungen von betroffenen Eltern mit Moscheen. "Als wolle man sich beim Thema Salafismus nicht die Hände schmutzig machen", schreibt Neriman Yaman.

Im November 2014, Yusuf ist gerade in die neunte Klasse gekommen, wird er von der Schule suspendiert - er hat einer jüdischen Mitschülerin gedroht, sie umzubringen. Der Direktor alarmiert die Polizei und empfiehlt der Mutter ein Aussteigerprogramm für Salafisten. Von da an wird Yusuf bei den "Wegweisern" des nordrhein-westfälischen Landesamtes für Verfassungsschutz betreut. Seine Radikalisierung findet ab jetzt quasi unter Aufsicht der Behörden statt. Seine Mutter ist erleichtert, doch es ist längst zu spät.

Yusuf drohen zehn Jahre Haft

Im Internet hat Yusuf zu diesem Zeitpunkt bereits an Bekanntheit gewonnen: Auf Facebook postet er IS-Videos, auf seiner Ask.fm -Seite beantwortet er theologische Fragen und hat schnell Tausende Likes. Über diese Seite lernt Yusuf auch seine Freundin kennen: Nurcan trägt Burka, sogar der Sichtschlitz vor ihren Augen ist mit einem Netz verhüllt. Im Buch von Neriman Yaman kommt sie nicht gut weg, die Mutter glaubt, dass Nurcan einen schlechten Einfluss auf ihren Yusuf hatte. Nach wenigen Wochen lassen sich die beiden 15-Jährigen heimlich von einem Konvertiten in einer Solinger Moschee trauen. Als Yusuf seiner Mutter davon erzählt, ruft sie die Polizei. Doch die kann nichts tun, weil eine solche Ehe in Deutschland nicht anerkannt ist. Neriman Yaman fürchtet nun, ihr Sohn könnte nach Syrien verschwinden - und bekommt einen Nervenzusammenbruch.

Yusuf bleibt in Deutschland, doch seine Mutter verliert immer mehr den Zugang zu ihm: Im Netz hat er auch neue Freunde getroffen, wenn sie ihn besuchen, verlangt er von seiner Mutter, sich in der Küche zu verstecken. Warum Neriman Yaman das mitmacht, schreibt sie nicht. Aus der Schule häufen sich die Schreckensmeldungen: Im Unterricht wirkt der Junge weggetreten, nur für Chemie interessiert er sich plötzlich. In der Pause prahlt er mit einem Video, das ihn und seine Freunde bei einer Sprengung im Wald zeigt. Die Ermittler werden diese Explosion später als "Probesprengung" werten.

Weil er bei dieser "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" teilgenommen hat, wurde ein Bekannter von Yusuf, der 17-jährige Mohammed Ö., bereits zu zwei Jahren Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt, derzeit läuft am Landgericht Essen das Berufungsverfahren. Aus dem Gefängnis soll er laut einem Bericht der Bild-Zeitung einen Brief an Yusuf geschrieben haben, in dem Mohammed Ö. fragt, ob es auch in Ordnung sei, Kinder zu töten. Das Gericht will sich zu dem Brief nicht äußern. Der Anwalt von Yusuf ist dagegen "wirklich überzeugt, dass dieser sich geändert hat". Der inzwischen 17-Jährige habe sich geöffnet, habe die Hintergründe seiner Radikalisierung geschildert und welche Personen dabei eine Rolle gespielt hätten. Vor Gericht wolle er umfassend aussagen.

Fest steht: Yusuf droht eine hohe Strafe. Knapp 90 Seiten dick ist die Anklageschrift gegen ihn und seine mutmaßlichen Mittäter, mehr als 20 Verhandlungstage sind angesetzt. Der Prozess vor der Jugendstrafkammer findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil die Angeklagten minderjährig sind. Die Höchststrafe für versuchten Mord beträgt laut Jugendstrafrecht zehn Jahre. Strafmildernd könnte für Yusuf ausfallen, dass er einen Entschuldigungsbrief geschrieben hat - im Jugendstrafrecht spielt das Verhalten nach der Tat eine wichtige Rolle. Auch wenn er glaubhaft machen kann, dass er die Salafistenszene wirklich verlassen will, dürfte ihm das positiv ausgelegt werden.

Aber hat Yusuf sich wirklich von den Islamisten losgesagt? Seine Mutter besucht ihn drei Mal im Monat, jeweils 45 Minuten lang. Sie könne ihm nicht in den Kopf schauen, aber im Gefängnis will sie eine Veränderung wahrgenommen haben, schreibt Neriman Yaman: Er spreche nicht mehr in religiösen Floskeln, werde normaler. Die Mutter hofft offenbar immer noch. Hofft, dass aus dem Islamist Yusuf wieder ihr Sohn Yusuf wird.

(Mit Material der Agenturen)

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