Anschläge von Paris:"Es gibt auch gesunde Wut"

Antoine Leiris Bataclan Blanvalet "Meinen Hass bekommt ihr nicht"

Antoine Leiris hat im Bataclan seine Frau verloren - seinen Hass will er den Terroristen nicht gönnen.

(Foto: Sandrine Roudeix)

Antoine Leiris wurde nach den Anschlägen von Paris zum Gesicht der Trauer, seine Botschaft bewegte die Welt. Nun ist sein Buch erschienen: "Meinen Hass bekommt ihr nicht."

Interview von Lena Jakat

Am Abend des 13. November 2015 liest Antoine Leiris in einem mittelmäßigen Roman; er ist mit seinem kleinen Sohn Melvil allein zu Hause. Seine Frau Hélène ist auf einem Konzert, dem Konzert der "Eagles of Death Metal" im Bataclan. Erst drei Tage später wird er sie wiedersehen. In der Gerichtsmedizin. Leiris schreibt auf Facebook eine Art offenen Brief an die Attentäter (hier auf Deutsch), die ihm die Frau und seinem Sohn die Mutter nahmen. Seine Botschaft: "Meinen Hass bekommt ihr nicht." Sein Post bewegt die Welt; bis heute wurde er 230 000 Mal geteilt. Unter demselben Titel ist nun ein Buch erschienen, ein schmaler Band, in dem Leiris das Geschehen dieser Tage dokumentiert hat, das innere Geschehen und das äußere. Das Buch ist eine intime Autobiografie, die nicht einmal zwei Wochen umspannt, ein poetisches Zeitdokument der Trauer.

Wir erreichen Leiris in Hamburg, wo er TV- und Pressetermine wahrnimmt.

"Das Tier ist wild, seine Reißzähne sind scharf. Ich versuche nur, einen Käfig zu bauen, in den ich es einsperren kann. (...) Zwischen dem Tod und mir ist nur ein Gitter aus Papier."

SZ: Herr Leiris, jener Käfig aus Papier ist nun fertig, und Sie gehen damit auf Pressereise. Wie geht es dem Biest?

Antoine Leiris: Das Biest ist mit der Zeit immer besser einzuschätzen. Tatsächlich war es der Vorgang des Schreibens, der mir erlaubte, meine Trauer in einen Käfig zu sperren. Wenn ich nun reise, reise ich mit einem Kummer, der befreit ist.

War das Schreiben für Sie also eine Art Trauerarbeit?

Wenn ich geschrieben habe, konnte ich einerseits mit Hélène zusammen sein, andererseits war ich ganz in meiner Trauer versunken, aber nicht darin eingeschlossen. Das Schreiben eröffnet einen immensen Raum, eine Freiheit, die es erlaubt, weiterzugehen, während man in seiner Trauer bleibt.

Sie haben auf Ihren Brief bei Facebook emotionale Reaktionen aus aller Welt erhalten. Hat Sie das darin bestärkt, weiterzuschreiben?

Es hat mir persönlich geholfen, mir gutgetan. Doch beim Schreiben des Buches wollte ich nicht daran denken, wer es lesen würde, was die Leute darüber sagen würden. ich habe mich eher bemüht, nicht etwas zu geben, von dem ich glaubte, dass man es von mir erwartet. Ich wollte etwas geben, das echt ist, roh. Wahre Gefühle.

Was glauben Sie, haben Ihre Leser das Gefühl, Sie zu kennen?

Es ist seltsam. Ich weiß nicht, ob das bei Autobiografien immer so ist. Die Menschen sind sich dessen bewusst, dass sie in meine Intimsphäre treten. Aber es entsteht bei ihnen nicht das Bedürfnis, weiter vorzudringen, sondern ihre Intimsphäre mit mir zu teilen. Die Menschen kommen auf mich zu und lassen mich an ihrer Geschichte teilhaben.

Sprechen sie mit Ihnen über die Attentate vom 13. November?

Die Menschen erzählen mir von ihrem Leben, davon, was ihnen zugestoßen ist. Das hat sehr wenig mit dem zu tun, was im Bataclan vorgefallen ist. Das hat mit dem Vatersein zu tun, mit der Familie, dem Schmerz, der Liebe.

"Ich habe den Hass gespürt, aber mich dagegen gewehrt"

"Man will mich treffen, mit mir sprechen, mich berühren. Ich bin ein Totem. Ich werde abgeschätzt, gemessen und beziffert, als gäbe es eine Richterskala der Traurigkeit und als wären sie davon überzeugt, in mir 'The Big One' vor Augen zu haben. Das Erdbeben, das nur ein- bis fünfmal im Jahrhundert auftritt. Stärke 9."

Erklären Sie bitte die Sache mit dem Totem.

Menschen in Frankreich, in Europa, auf der ganzen Welt, waren tief berührt, fühlten sich getroffen nach den Attentaten. Viele Außenstehende stellten sich die Frage, ob sie das Recht hätten, traurig zu sein. Aber sicher dürfen sie tieftraurig sein, es sind Menschen gestorben! Doch die Leute stellten sich diese Frage und suchten jemanden, der zwischen ihnen und dem Attentat eine Verbindung schuf. Jemanden wie mich, eine öffentliche Person, durch die sie ihren eigenen Schmerz ausleben konnten. So gesehen war ich der Totem ihrer Trauer. Außerdem war da noch die Sache mit dem Aufrechtbleiben.

Wie meinen Sie das?

Damals wollten wir alle zusammenklappen, uns zurückziehen. Die Menschen haben sich jedoch festgehalten an mir, weil ich direkt betroffen war und ihnen sagte: "Nein, wir bleiben aufrecht, wir werden weiterhin in dieser Gesellschaft zusammenleben!" Vielleicht brauchten sie jemanden, der ihnen half, den ersten Schritt in diese Richtung zu gehen.

"Nein, ich werde Euch nicht das Geschenk machen, Euch zu hassen. Auch wenn Ihr es darauf angelegt habt; auf den Hass mit Wut zu antworten, würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die Euch zu dem gemacht hat, was Ihr seid."

Trotz dieser Botschaft waren und sind viele Menschen wütend. Was sagen Sie ihnen?

Es gibt auch gesunde Wut. Vor ein paar Tagen habe ich mit jemandem gesprochen, der bei den Attentaten schwer verletzt wurde, der selbst auch jemanden verloren hat. Er sagte: "Ich hasse. Ich verstehe nicht, wie du das machst, nicht zu hassen." Wir haben diskutiert - und schnell festgestellt, dass wir am selben Punkt angekommen sind. Dieser Punkt heißt: weiterleben und nicht nur durch diese Attentate leben. Weiterlächeln, weiter Spaß haben. Uns an die Menschen erinnern, die wir verloren haben, aber nach vorne schauen. Sehr viele Menschen, die die Attentate erlebt haben, sind jetzt gemeinsam an diesem Punkt angekommen.

Meine Wirklichkeit ist glücklich

"Seit Freitag ist Melvil allein Herr über die Zeit. (...) Was bedeuten schon die Stunden, er beschließt, wann das Universum aufstehen muss, und ich richte mich danach, damit seine Welt intakt bleibt."

Sie beschreiben, wie der Alltag Ihnen und Ihrem Sohn Halt gibt. Bringt die erneute Aufregung um Ihr Buch da nicht viel durcheinander?

Nein, nein. Wenn man mein Leben durch das mediale Prisma betrachtet, bekommt man vielleicht den Eindruck, dass gerade wahnsinnig viel passiert. Aber das tut es nicht. Es passiert wenig. Um 9.30 Uhr liefere ich meinen Sohn an der Krippe ab, um 19.45 Uhr bin ich wieder da, um meinen Sohn abzuholen. Wir halten uns auch ziemlich fern. Ich lese nicht, was man über mich schreibt, ich höre es nicht um Radio, ich sehe es nicht im Fernsehen. Ich kriege ein bisschen was vom Wirbel um mich herum mit, manchmal begebe ich mich auch rein in den Wirbel, wie jetzt. Aber das bleibt alles in den Grenzen, die mir erlauben, vor allem Vater zu sein. Für Melvil und mich hat sich nichts geändert. Wie gehen unser kleines Stück des Weges weiter.

Haben Sie keine Angst, für immer der Witwer vom Bataclan zu bleiben?

Darüber denke ich schon manchmal nach. Aber das ist eigentlich müßig. Erstens muss man sehen, was die Zeit so bringt. Und außerdem habe ich keine Lust, mir diese Frage zu stellen. Ich will mich nicht fragen, was die Absicht der Menschen ist, die zu mir kommen. Ich will mich auch nicht fragen: Was soll ich für die Zukunft planen? Wer will ich werden?

Es besteht durchaus das Risiko, dass, wenn man das so nennen will, ich in der Öffentlichkeit immer "der Mann der Attentate" bleiben werde. Aber die Öffentlichkeit, die Mediensphäre bleibt immer nur eine Abbildung, eine Interpretation, die die Oberfläche einer Person berührt. Ein Versuch, das wahre Leben abzubilden.

Und wie sieht Ihr wahres Leben gerade aus?

Die Wirklichkeit ist viel komplexer. Und glücklicher. In meinem wahren Leben, in das ich immer wieder zurückkehre, bin ich Antoine. Antoine, den seine Freunde auf ein Glas Wein besuchen, wenn das Kind im Bett ist. Antoine, der am Wochenende mit seinem Sohn spazieren geht, der mit seiner Schwiegermutter durch den Park schlendert, Spaß hat. In Wirklichkeit bin ich nur ich. Und der Vater von Melvil.

"Meinen Hass bekommt ihr nicht", 144 Seiten, Blanvalet, 12 Euro

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