Todesstrafe für Boston-Attentäter:Wer ist Dschochar Zarnajew?

Prozess um Terroranschlag in Boston beginnt

Ein von der Polizei im Jahr 2013 veröffentlichtes Foto zeigt Dschochar Zarnajew in der Zeit vor den Anschlägen.

(Foto: dpa)
  • Ein Bundesgericht in Boston hat den überlebenden Attentäter Dschochar Zarnajew (engl.: Dzhokhar Tsarnaev) zum Tode verurteilt. Er kann jedoch Berufung einlegen.
  • Das Attentat während des Marathonlaufs im April 2013 hatte die US-Gesellschaft schwer erschüttert. Durch die Bomben und bei der anschließenden Verfolgungsjagd kamen vier Menschen ums Leben, mehr als 260 wurden verletzt.
  • Der 21-jährige Dschochar Zarnajew galt lange als mustergültig integriert. Doch seine Familie - und vor allem sein älterer Bruder - könnten einen entscheidenden Teil zu seiner Radikalisierung beigetragen haben.

Von Felicitas Kock und Matthias Kolb

Als die Todesstrafe im Gerichtssaal in Boston verkündet wird, zeigt Dschochar Zarnajew nach außen keine Reaktion. Mit versteinerter Miene hört er zu, wie die zwölfköpfige Jury erläutert, wie sie jeden der 30 Anklagepunkte beurteilt. Einstimmig haben die Geschworenen entschieden, dass Zarnajew zum Tode verurteilt werden sollte. Niemand weiß, was in dem 21-Jährigen vorgeht, ob er seine mörderische Tat bereut - oder ob er es bereut, im Prozess auf Anraten seiner Anwälte nicht ausgesagt zu haben.

Ständig war in dem gut zweieinhalb Monate andauernden Prozess darüber diskutiert worden, warum Zarnajew nach außen keine Regung zeigte. Beobachter spekulierten darüber, wie die fünf Männer und sieben Frauen in der Jury diese Haltung auffassen würden. Nur ein einziges Mal standen dem jungen Mann Tränen in den Augen - er weinte, weil seine aus Russland angereiste Tante in Tränen ausbrach und zwischenzeitlich aus dem Gerichtssaal gebracht werden musste.

Dass er jedoch kein einziges Mal um die vier Menschen geweint hatte, die er und sein älterer Bruder getötet hatten, oder um die mehr als 260 Verletzten, wurde nicht nur von einigen Kommentatoren der örtlichen Tageszeitung Boston Globe kritisch gesehen. An seiner Schuld, die bereits Anfang April festgestellt worden war, hatte kein Zweifel bestanden.

Die Verteidigung um die renommierte Anwältin Judy Clarke hatte ihre Strategie auf ein Argument ausgerichtet: Es sei der ältere Bruder Tamerlan gewesen, der sich zuerst radikalisiert und zum Islamisten gewandelt habe. Er habe Dschochar, der ihn bewundert habe, so manipuliert, dass sich dieser an dem Attentatsplan beteiligt habe. Das Urteil zeigt jedoch, dass dieses Argument nicht einen der zwölf Geschworenen überzeugte.

Wurzeln in Zentralasien und im Kaukasus

Dschochar Zarnajew wird 1993 in der ehemaligen Sowjetrepublik Kirgisistan geboren, sein Vater stammt aus Tschetschenien, die Mutter aus der Kaukasus-Republik Dagestan. 2002 migrieren die Eltern mit Dschochar, ihrem jüngsten Kind, in den US-Bundesstaat Massachusetts, wo bereits ein Verwandter lebt. Die älteren Geschwister Tamerlan, Ailina und Bella kommen Monate später nach. Die Familie beantragt Asyl, 2007 erhalten die Zarnajews eine Aufenthaltsgenehmigung.

Jugend in den USA

In Massachusetts ziehen die Zarnajews in ein Arbeiterviertel. Der Vater, der in der alten Heimat Anwalt war, arbeitet als Automechaniker, die Mutter als Kosmetikerin. Dschochar fügt sich leicht in sein neues Leben, sein Alter - er ist bei der Ankunft in den USA gerade neun Jahre alt - kommt ihm dabei zugute. Der Junge besucht eine öffentliche Schule, kommt im Unterricht gut mit, treibt Sport, wird später Kapitän des schulischen Ringer-Teams. Als Teenager geht er gern auf Partys, raucht gelegentlich Marihuana. Ansonsten erkennen Mitschüler und Lehrer keinerlei Laster.

"Wenn jemand mich gefragt hätte, wie dieses Kind drauf ist, hätte ich gesagt, er hat ein Herz aus Gold", zitiert der Boston Globe nach den Anschlägen einen früheren Lehrer. "Er war so gütig, wie man nur sein kann. Mir erscheint das alles surreal." Mitschüler zeigen sich ebenso ungläubig: "Er war einer von uns", sagen Kommilitonen zu Journalisten, Dschochar habe mit ihnen gelernt und gefeiert, sei ein netter Kerl und liebenswert gewesen.

2011 macht Dschochar Zarnajew seinen Schulabschluss, schreibt sich an der University of Massachusetts Dartmouth für ein Meeresbiologie-Studium ein. Am 11. September 2012 erhält er die US-Staatsbürgerschaft. In seiner Freizeit engagiert er sich freiwillig in einem Programm für Menschen mit Behinderung.

Mit dem Schulabschluss häufen sich jedoch die Probleme: Die Familie der Zarnajews zerfällt. Der Vater geht zurück nach Russland, die Mutter kurze Zeit später auch, 2012 lassen sich die Eltern scheiden. Dschochar und seine Geschwister bleiben allein in den USA zurück. Als am 15. April 2013 die Bomben an der Ziellinie des Boston-Marathons explodieren, ist der damals 19-Jährige im zweiten Studienjahr und lebt auf dem Campus. Das Studium ist teuer, Zarnajew schuldet der Uni 20 000 Dollar. Kommilitonen zufolge dealt er mit Marihuana, um an Geld zu kommen. Er ist bereits durch mehrere Kurse gefallen.

Dem Älteren wie ein Welpe hinterhergelaufen

Beziehung zum größeren Bruder

Tamerlan Zarnajew ist schon 18, als er in die USA zieht. Zunächst hat er große Pläne, will Ingenieur werden, feiert Erfolge als Amateurboxer. Freundschaften mit Einheimischen schließt Tamerlan nicht - er sagt, er verstehe die Amerikaner nicht. Das College bricht er ab, ist danach längere Zeit arbeitslos, 2009 wird er wegen häuslicher Gewalt angezeigt. Die Anzeige ist wohl der Grund, warum Tamerlan Zarnajew im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder nicht eingebürgert wird.

Als die Familie der Zarnajews zu zerfallen beginnt, wendet sich Tamerlan stärker seinem Glauben zu - auch auf Bestreben der Mutter, wie es heißt. Er betet nicht mehr einmal, sondern fünfmal am Tag, hört auf zu trinken und zu rauchen, spricht andere auf ihren laxen Umgang mit dem Glauben an, berichten Bekannte. Er heiratet eine Studentin aus Rhode Island und wird Vater. Dann fängt Tamerlan nach Auffassung der Behörden an, sich zu radikalisieren, liest entsprechende Literatur, postet im Internet mehrere Einträge mit extremistischem Hintergrund.

Wie eng die Bindung zwischen Dschochar Zarnajew und seinem sieben Jahre älteren Bruder Tamerlan ist, kann jeder in der Umgebung sehen. Der Jüngere sei dem Älteren wie ein Welpe hinterhergelaufen, zitieren Zeitungen einen Boxlehrer, der Tamerlan in seiner Jugend trainierte. Ein Cousin aus Russland sagte kurz nach dem Attentat, er habe Dschochar wiederholt vor dem großen Bruder gewarnt, der Schwierigkeiten geradezu anziehe.

Radikalisierung durch Internetvideos

Russische Behörden kontaktieren 2011 das FBI mit dem Hinweis, Tamerlan Zarnajew und seine Mutter zu überprüfen. Das FBI stellt - zumindest offiziell - nichts Verdächtiges fest. 2012 reist Tamerlan für mehrere Monate nach Russland.

Der jüngere, Dschochar, soll dem FBI nach seiner Festnahme gesagt haben, er und sein Bruder hätten sich über Internetvideos radikalisiert. Im Februar, etwa zwei Monate vor dem Anschlag, begannen sie, das haben Recherchen des Boston Globe ergeben, sich den Umgang mit Feuerwaffen beizubringen. Im Netz lernen sie demnach, wie man Bomben baut.

Nach dem Attentat

An die Wand des Bootes, in dem er sich versteckt hält, als die Polizei ihn jagt, kritzelt Dschochar Zarnajew folgende Sätze: "Die Regierung der Vereinigten Staaten tötet unschuldige Zivilisten." Außerdem steht da: "Wir Muslime sind eins, wenn man einen verletzt, verletzt man alle." In einem Verhör kritisiert er nach Angaben des FBI die Angriffe des US-Militärs auf Muslime im Irak und in Afghanistan. Außerdem gibt er an, er und sein Bruder hätten mit den Anschlägen weitermachen wollen - nächstes Ziel sei der Times Square in New York gewesen.

Unmittelbar nach dem Attentat, als die Polizei noch ermittelt, wer den Angriff verübt haben könnte, kauft Dschochar Zarnajew eine Tüte Milch, dann hält er sich auf dem Unigelände auf. Er macht Sport, übernachtet in seinem Bett, und er twittert: "Ain't no love in the heart of the city, stay safe people."

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