Angeklagter im Prozess um Boston-Attentat:Wer ist Dschochar Zarnajew?

Dzhokhar Tsarnaev, George O'Toole Jr.

Dschochar Zarnajew auf einer Gerichtszeichnung aus dem Januar 2015.

(Foto: AP)
  • Folgte Dschochar Zarnajew (engl.: Dzhokhar Tsarnaev) blind seinem älteren Bruder Tamerlan oder war er selbst eine treibende Kraft hinter dem Anschlag auf den Boston-Marathon?
  • Diese Frage wird im Prozess vor dem Bundesgericht in Boston eine zentrale Rolle spielen.
  • Bei dem schlimmsten Attentat in den USA nach dem 11. September 2001 und bei der anschließenden Verfolgungsjagd kamen vier Menschen ums Leben, mehr als 260 wurden verletzt.
  • Der 21-jährige Dschochar Zarnajew galt lange als mustergültig integriert. Doch seine Familie könnte einen entscheidenden Teil zu seiner Radikalisierung beigetragen haben.

Von Felicitas Kock

Der Prozess gegen den überlebenden Attentäter von Boston hat begonnen: Als er am 15. April 2013 gemeinsam mit seinem Bruder zwei Bomben an der Ziellinie des Boston-Marathons ablegte, war Dschochar Zarnajew 19 Jahre alt. Jetzt steht der junge Mann, der für den Tod von vier Menschen verantwortlich ist, vor Gericht. Allein - sein Bruder wurde auf der Flucht von der Polizei getötet. Vier Monate soll der Prozess dauern, am Ende könnte die Todesstrafe verhängt werden.

Dass Zarnajew die Taten verübt hat, steht außer Frage, das hat die Verteidigung am ersten Verhandlungstat betont. Im Prozess geht es allein darum, die Beweggründe des Attentäters zu klären. Was für eine Persönlichkeit ist Dschochar Zarnajew? Ist er ein mit besonderer Grausamkeit agierender Terrorist, der bereitwillig tötete und sich bereits lange vor der Tat radikalisierte? Das will die Staatsanwaltschaft beweisen.

Oder wurde Dschochar Zarnajew von seinem dominanten großen Bruder Tamerlan manipuliert und mit islamistischen Parolen gefüttert? So argumentiert die Verteidigung.

Wurzeln in Zentralasien und im Kaukasus

Dschochar Zarnajew wird 1993 in der ehemaligen Sowjetrepublik Kirgisistan geboren, sein Vater stammt aus Tschetschenien, die Mutter aus der Kaukasus-Republik Dagestan. 2002 migrieren die Eltern mit Dschochar, ihrem jüngsten Kind, in den US-Bundesstaat Massachusetts, wo bereits ein Verwandter lebt. Die älteren Geschwister Tamerlan, Ailina und Bella kommen Monate später nach. Die Familie beantragt Asyl, 2007 erhalten die Zarnajews eine Aufenthaltsgenehmigung.

Jugend in den USA

In Massachusetts ziehen die Zarnajews in ein Arbeiterviertel. Der Vater, der in der alten Heimat Anwalt war, arbeitet als Automechaniker, die Mutter als Kosmetikerin. Dschochar fügt sich leicht in sein neues Leben, sein Alter - er ist bei der Ankunft in den USA gerade neun Jahre alt - kommt ihm dabei zugute. Der Junge besucht eine öffentliche Schule, kommt im Unterricht gut mit, treibt Sport, wird später Kapitän des schulischen Ringer-Teams. Als Teenager geht er gern auf Partys, raucht gelegentlich Marihuana. Ansonsten erkennen Mitschüler und Lehrer keinerlei Laster.

"Wenn jemand mich gefragt hätte, wie dieses Kind drauf ist, hätte ich gesagt, er hat ein Herz aus Gold", zitiert der Boston Globe nach den Anschlägen einen früheren Lehrer. "Er war so gütig, wie man nur sein kann. Mir erscheint das alles surreal." Mitschüler zeigen sich ebenso ungläubig: "Er war einer von uns", sagen Kommilitonen zu Journalisten, Dschochar habe mit ihnen gelernt und gefeiert, sei ein netter Kerl und liebenswert gewesen.

2011 macht Dschochar Zarnajew seinen Schulabschluss, schreibt sich an der University of Massachusetts Dartmouth für ein Meeresbiologie-Studium ein. Am 11. September 2012 erhält er die US-Staatsbürgerschaft. In seiner Freizeit engagiert er sich freiwillig in einem Programm für Menschen mit Behinderung.

Mit dem Schulabschluss häufen sich jedoch die Probleme: Die Familie der Zarnajews fällt zusehends auseinander. Der Vater geht zurück nach Russland, die Mutter kurze Zeit später auch, 2012 lassen sich die Eltern scheiden. Dschochar und seine Geschwister bleiben allein in den USA zurück. Als am 15. April 2013 die Bomben an der Ziellinie des Boston-Marathons explodieren, ist der damals 19-Jährige im zweiten Studienjahr und lebt auf dem Campus. Das Studium ist teuer, Zarnajew schuldet der Uni 20 000 Dollar, Kommilitonen zufolge dealt er mit Marihuana, um an Geld zu kommen. Er ist bereits durch mehrere Kurse gefallen.

Dem Älteren wie ein Welpe hinterhergelaufen

Beziehung zum Bruder

Tamerlan Zarnajew ist schon 18, als er in die USA zieht. Zunächst hat er große Pläne, will Ingenieur werden, feiert Erfolge als Amateurboxer. Freundschaften mit Einheimischen schließt Tamerlan nicht - er sagt, er verstehe die Amerikaner nicht. Das College bricht er ab, ist danach längere Zeit arbeitslos, 2009 wird er wegen häuslicher Gewalt angezeigt. Die Anzeige ist wohl der Grund, warum Tamerlan Zarnajew im Gegensatz zu seinem Bruder nicht eingebürgert wird.

Als die Familie der Zarnajews zu zerfallen beginnt, wendet sich Tamerlan stärker seinem Glauben zu - auch auf Bestreben der Mutter, wie es heißt. Er betet nicht mehr einmal, sondern fünfmal am Tag, hört auf zu trinken und zu rauchen, spricht andere auf ihren laxen Umgang mit dem Glauben an, berichten Bekannte. Er heiratet eine Studentin aus Rhode Island und wird Vater. Dann fängt Tamerlan nach Auffassung der Behörden an, sich zu radikalisieren, liest entsprechende Literatur, postet im Internet mehrere Einträge mit extremistischem Hintergrund.

Wie eng die Bindung zwischen Dschochar Zarnajew und seinem sieben Jahre älteren Bruder Tamerlan ist, kann jeder in der Umgebung sehen. Der Jüngere sei dem Älteren wie ein Welpe hinterhergelaufen, zitieren Zeitungen einen Boxlehrer, der Tamerlan in seiner Jugend trainierte. Ein Cousin aus Russland sagte kurz nach dem Attentat, er habe Dschochar wiederholt vor dem großen Bruder gewarnt, der Schwierigkeiten geradezu anziehe.

Radikalisierung durch Internetvideos

Russische Behörden kontaktieren 2011 das FBI mit dem Hinweis, Tamerlan Zarnajew und seine Mutter zu überprüfen. Das FBI stellt - zumindest offiziell - nichts Verdächtiges fest. 2012 reist Tamerlan für mehrere Monate nach Russland.

Der jüngere, Dschochar, soll dem FBI nach seiner Festnahme gesagt haben, er und sein Bruder hätten sich über Internetvideos radikalisiert. Im Februar, etwa zwei Monate vor dem Anschlag, begannen sie, das haben Recherchen des Boston Globe ergeben, sich den Umgang mit Feuerwaffen beizubringen. Im Netz lernen sie demnach, wie man Bomben baut.

Nach dem Attentat

Rückschlüsse auf die Motive der Brüder sollen auch die Sätze geben, die Dschochar Zarnajew an die Wand des Bootes kritzelt, in dem er sich versteckt hält, als die Polizei ihn jagt. "Die Regierung der Vereinigten Staaten tötet unschuldige Zivilisten", steht da. "Wir Muslime sind eins, wenn man einen verletzt, verletzt man alle." In einem Verhör kritisiert er nach Angaben des FBI die Angriffe des US-Militärs auf Muslime im Irak und in Afghanistan. Außerdem gibt er an, er und sein Bruder hätten mit den Anschlägen weitermachen wollen - nächstes Ziel sei der Times Square in New York gewesen.

Unmittelbar nach dem Attentat, als die Polizei noch ermittelt, wer den Angriff verübt haben könnte, kauft Dschochar Zarnajew eine Tüte Milch, dann hält er sich auf dem Unigelände auf. Er macht Sport, übernachtet in seinem Bett, und er twittert: "Ain't no love in the heart of the city, stay safe people."

Linktipps:

Eine Übersicht aller Prozessbeteiligten gibt es auf der Internetseite der Bostoner Radiostation WBUR-FM.

Ein umfassendes Porträt der Zarnajew-Familie hat der Boston Globe recherchiert.

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