Amoklauf von Winnenden:Tabuthema Psychiatrie

Ob Amokläufer Tim K. in psychologischer Behandlung war oder nicht, ist noch unbekannt. Klar ist: Er hätte behandelt werden sollen. Doch junge Männer verweigern häufig die Hilfe.

Barbara Vorsamer

War Tim K., der Amokläufer von Winnenden, in psychologischer Behandlung? Aufgeregt diskutierte Deutschland die vergangenen drei Tage diese Meldung. Während die Eltern dies brüskiert von sich weisen, erklären Polizei, Staatsanwaltschaft und selbst der Direktor des Klinikums, dass der 17-Jährige mehrmals ambulant im Klinikum am Weissenhof in der Nähe von Heilbronn betreut worden sein soll. Dies sei keine Psychotherapie, entgegnen die Eltern.

Das Zentrum der Psychiatrie in Winnenden

Das Zentrum für Psychiatrie in Winnenden

(Foto: Foto: ddp)

Ihre Weigerung, öffentlich eventuelle psychische Krankheiten oder Auffälligkeiten ihres Sohnes anzugeben, hat juristische Gründe: Kann nämlich nachgewiesen werden, dass Amokläufer Tim bereits als psychisch instabil, aggressiv oder narzisstisch bekannt war, droht dem Vater eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Er hätte dann einem gefährdeten Jugendlichen den Zugang zu Waffen und Munition verschafft.

Doch dies ist nur die juristische Seite. Die Aufregung um die Nachricht, wonach sich Tim K. möglicherweise in psychologischer Behandlung befand, hat vielmehr auch moralische und gesellschaftliche Implikationen: Denn das Gerücht über eine therapeutische Betreuung scheint Wut und Trauer über die Tat des Amokläufers noch zu verstärken.

So entschieden, wie seine Eltern eine Behandlung zurückweisen, liegt der Verdacht nahe: Für sie wäre ein psychisch kranker Sohn der Beleg für ihr eigenes Scheitern. Ein Beleg für das unsinnige Stigma, mit dem Psychotherapie und Psychiatrie in unserer Gesellschaft noch immer belegt sind.

Die Diskussion müsste andersherum geführt werden: Schlimm ist es, wenn ein junger Mann wie Tim K. mit seinen Problemen alleine bleibt. Ein Einzelgänger, der sich als Verlierer fühlt, der in der Schule ausgegrenzt und gemobbt wird (oder es zumindest so empfindet), der unter Weltschmerz leidet und manchmal die ganze Welt hasst: So jemand hätte in psychotherapeutischer Behandlung sein müssen.

Wäre es tatsächlich so gewesen, wie der Anwalt der Eltern sagt, nämlich, dass den Erziehungsberechtigten nie etwas aufgefallen wäre und dass Tim K. nie Hilfestellung von fachärztlicher Seite bekommen hätte: Das wäre die schlimmere Variante der Geschichte des Amokläufers von Winnenden. Und auch den Eltern wäre in diesem Fall der größere Vorwurf zu machen, als wenn sie ihren Sohn zumindest ein paar Mal in die Psychiatrie gebracht haben. Es scheint, als hätten Tim K.s Eltern sehr früh den Kontakt zu der Gedanken- und Gefühlswelt ihres Sohnes verloren.

Ob der Amokläufer von Winnenden nun in Behandlung war oder nicht, ist im Moment noch nicht endgültig bekannt. Die Versionen von Staatsanwaltschaft, Polizei, Klinik und der Eltern stehen sich gegenüber. Doch der Umgang mit der Thematik wirft das Licht auf ein größeres Problem: Psychotherapeutische Behandlung wird noch immer als Schande angesehen. Es ist das große Tabuthema.

Von "Klapse" und "Seelenklempnern" ist die Rede. Denjenigen, die freiwillig dorthin gehen, ist das oft nach wie vor peinlich. Nach außen schieben sie daher lieber körperliche Schmerzen vor, Rückenprobleme etwa. Viele gehen erst gar nicht hin - und versuchen, den Kampf mit den inneren Dämonen mit sich selbst auszumachen.

Männer und Psychotherapie

Das ist insbesondere bei Männern, und noch mehr bei jungen Männern, der Fall. Frauen sind häufiger in der Lage, sich zu öffnen, über Gefühle und Probleme zu reden. Sie sind eher bereit, sich ein "Scheitern" zuzugestehen - obwohl eine nervenärztliche Behandlung gar nicht als solches gesehen werden muss.

Männer hingegen sehen es meistens als Versagen und verdrängen ihre Probleme. Sie wollen nach außen hin stark sein, weswegen sie depressive Verstimmungen, aggressive Anwandlungen, Stimmungsschwankungen oder psychotische Phasen vor sich selbst und anderen verbergen - und mit sich selbst ausmachen.

Irgendwann ist der Druck, den sie in sich aufstauen, aber zu groß zum Aushalten. Junge Männer flippen aus. Natürlich wird nicht jeder Mann mit psychischen Problemen zum Amokläufer. Doch es ist sicher kein Zufall, dass die Mehrheit der Patienten in psychologischer Behandlung Frauen sind - die Insassen eines Gefängnisses jedoch mehrheitlich männlich. Aktuellen Studien zufolge sind nur bis zu fünf Prozent der Insassen weiblich.

Es ist Zeit, die Vorurteile gegenüber seelischen Krankheiten zu überwinden. Zwischen fünf und zehn Prozent der Erwachsenen, nach anderen Schätzungen bis zu 15 Prozent, erleiden vor dem 60. Lebensjahr eine Depression. Auch Angstzustände, das Borderline-Syndrom und Psychosen sind nicht das Problem einiger "Irrer", sondern können uns alle genauso treffen wie körperliche Beschwerden.

Es ist Zeit, sich von der Vorstellung zu lösen, psychisch Kranke seien nicht krank, sondern willens- und geistesschwach. Es ist Zeit, Psychotherapie so normal zu finden wie Operationen und Antibiotika. Dann können sich vielleicht auch irgendwann Jugendliche, die das Leben nicht mehr aushalten, helfen lassen - bevor sie zur Waffe greifen.

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