Amoklauf von Winnenden:Wie viel Schuld hat Tims Vater?

In Stuttgart hat der Prozess gegen den Vater des Amokläufers von Winnenden begonnen: Das Gericht hat betont, Jörg K. werde unter anderem fahrlässige Tötung vorgeworfen. "Ich hoffe, dass er sich mir als Mensch zeigt", sagte eine Angehörige vor Verfahrensbeginn.

Es ist einer der größten Strafprozesse, die in der baden-württembergischen Hauptstadt je stattgefunden haben. Nicht zuletzt deshalb, weil das Stuttgarter Landgericht zum Prozess gegen Jörg K. insgesamt 41 Nebenkläger zugelassen hat. Dem Beschuldigten wird fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung "jeweils in mehreren tateinheitlichen Fällen" vorgeworfen.

Prozess gegen Vater des Winnennder Amokläufers

Carlos Bolesch, der stellvertretende Vorstand und Pressesprecher des Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden präsentiert vor dem Landgericht in Stuttgart einen Anstecker, mit dem der Verein gegen Waffen demonstriert.

(Foto: dpa)

Jörg K. ist der Vater von Tim, jenem 17-Jährigen, der am 11. März 2009 in der Albertville-Realschule in Winnenden 13 Menschen erschoss und in einem Autohaus im nahegelegenen Wendlingen zwei weitere mit Schüssen hinrichtete. Danach tötete er sich selbst.

Die bei dem Amoklauf verwendete Beretta 92SF und die sichergestellten 285 Patronen gehörten Jörg K.

Der Prozess in Stuttgart beginnt aufgrund scharfer Sicherheitsvorkehrungen mit leichter Verspätung: Alle Zuhörer und Journalisten werden penibel durchsucht, sogar ein Sprengstoffhund schnüffelt vor Beginn durch den Gerichtssaal. Jörg K. gilt als gefährdet, er soll sogar Morddrohungen erhalten haben.

Der 51-Jährige nimmt erst im Gerichtssaal Platz, als alle Kameraleute den Raum verlassen haben. Er wolle sich nicht vorführen lassen, zitiert eine Gerichtssprecherin den Geschäftsmann.

Der Saal, der 160 Personen Platz bietet, ist voll. Die meisten der Anwesenden sind dunkel gekleidet - es macht den Eindruck, als säße hier eine Trauergemeinde beisammen.

Die Anklageschrift beinhaltet eine detaillierte Schilderung der Abläufe des 11. März 2009. Jedes Todesopfer wird namentlich genannt- die Atmosphäre im Saal ist beklemmend.

Die vielen anwesenden Angehörigen hoffen auf eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung. Die 18. Große Strafkammer in Stuttgart gibt dieser Hoffnung zu Prozessbeginn neue Nahrung: Nach Verlesung der Anklageschrift erklärt die Staatsanwaltschaft, sie halte an ihrer Auffassung fest, dass sich der Angeklagte "auch der fahrlässigen Tötung in 15 Fällen und der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht hat".

Die Jugendkammer des Landgerichts war bei der Zulassung der Klage zu dem Schluss gekommen, dass kein hinreichender Tatverdacht auf fahrlässige Tötung und Körperverletzung bestehe und hatte sich für nicht zuständig erklärt.

Die 18. Große Strafkammer, vor der nun verhandelt wird, ist an diese juristische Wertung allerdings nicht gebunden. An voraussichtlich 27 Verhandlungstagen wird nun zu klären sein, welche Mitschuld Jörg K. an der Tat seines Sohnes trägt.

Tims Vater bewahrte seine Beretta nicht wie vorgeschrieben verschlossen in einem Waffenschrank auf, sondern im Schlafzimmerschrank unter Kleidern. Auch ein Teil der Munition war für den Sohn problemlos zugänglich: Ein Magazin lag in einem Nachttischchen, ein weiteres in einer Sporttasche im Keller.

In einer ausführlichen Eröffnungserklärung drücken die Anwälte des Angeklagten den Angehörigen ihr Mitgefühl aus und schildern die schwierigen Lebensumstände der K.s seit Tims Amoklauf: Die Familie habe mehrmals umziehen und den Namen wechseln müssen. Die Tochter besuche seit der Tat ihres Bruders eine ausländische Schule - man sei in großer Sorge um sie.

Abschließend äußern die Verteidiger die Hoffnung, dass das Gericht angesichts dieser Belastungen im Falle einer Verurteilung von Jörg K. von einer Strafe absehen werde.

Von Seiten der Nebenkläger wird dieser Wunsch umgehend zurückgewiesen: Die Forderung nach Straffreiheit für den Angeklagten sei "äußerst ungeschickt".

Für die Angehörigen des Amoklaufs steht außer Frage, dass sich Jörg K. zu Recht wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung und nicht nur wegen eines fahrlässigen Waffendelikts verantworten muss: "Wir werden zu klären haben, was Verantwortung bedeutet, die des Staates für den Bürger und die der Eltern für ihre Kinder", sagte Gisela Mayer vor Prozessbeginn.

Mayer ist eine der Nebenklägerinnen: Ihre 24-jährige Tochter Nina war Referendarin an der Albertville-Realschule - und ist eines der Opfer von Tim K. "Ich möchte erfahren, wer er ist, denn auch er ist ein Vater. Ich hoffe, dass er sich mir als Mensch zeigt", beschreibt sie ihre Hoffnungen in Bezug auf das Verfahren. Persönlich beim Prozess anwesend zu sein, ist nicht leicht für die Mutter: "Das können Sie sich gar nicht vorstellen, wie schwer so ein Gang sein kann."

"Der Prozess ist ein Berg, über den die Angehörigen drüber müssen", meint Carlos Bolesch, Sprecher des Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden. Und der Rechtsanwalt Jens Rabe, der einige der Nebenkläger vertritt, erklärte: "Meine Mandanten wollen sich mit dem Vater auseinandersetzen und sehen, wie er tickt. Übernimmt er die Mitverantwortung für den Amoklauf und entschuldigt er sich?"

Für den Fall, dass Angehörige der Opfer den Prozess nicht durchstehen, wurden Vorkehrungen getroffen. Neben dem großen Gerichtssaal wurde ein Rückzugsraum eingerichtet. Zudem steht ein katholischer Seelsorger für den Notfall bereit.

Im Prozess sollen etwa 40 Zeugen gehört werden. Neben mindestens zehn Polizeibeamten sowie Medizinern, die nach dem Amoklauf im Einsatz waren, werden auch direkt Betroffene sowie deren Angehörige gehört. Zudem sind zahlreiche Sachverständige geladen, darunter zwei Psychiater und drei Rechtsmediziner.

Das Urteil wird für den 11. Januar 2011 erwartet.

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