Amoklauf von Winnenden:"Er konnte gut mit Kindern"

Immer mehr Details werden über den Täter von Winnenden bekannt - doch das Bild bleibt zwiespältig. Erst vor wenigen Wochen bezog Tim in einem Schulaufsatz zum Thema Amoklauf Stellung.

Ann-Kathrin Eckardt

Bernhard Fritz sitzt in seinem Büro im Winnender Rathaus und ringt um Fassung. Sehr stark hat er sein müssen in den vergangenen 48 Stunden, der Bürgermeister von Winnenden. Jetzt, am dritten Tag nach dem Amoklauf, sieht man ihm die Erschöpfung an: "Am Anfang habe ich mich stark gefühlt", sagt der 58-Jährige und nimmt die Brille ab. "Aber jetzt merke ich, ich bin es gar nicht."

Winnenden AP

Die Frage nach dem Warum beschäftigt alle Trauernden in Winnenden - doch trotz der Details, die über den Täter bekannt werden, bleibt das Bild zwiespältig

(Foto: Foto: AP)

Er zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche. In einer Stunde, um elf Uhr, kommt der Ministerpräsident. Zusammen mit Günther Oettinger wird er das Kondolenzbuch im Rathaus freigeben, danach muss die Trauerfeier am kommenden Samstag geplant werden. Die Kanzlerin und der Bundespräsident haben sich angekündigt. "Aber viel wichtiger ist jetzt erst mal die Betreuung der Jugendlichen, Eltern und Lehrer", sagt Fritz. "Stellen Sie sich nur vor, da würde jetzt noch jemand durchdrehen."

Etwa hundert Psychologen aus ganz Deutschland, darunter auch drei Frauen aus Erfurt, sollen das verhindern. Sie sind bei den betroffenen Familien oder in der Winnender Stadthalle, direkt gegenüber von der Albertville-Realschule. Zum ersten Mal treffen sich an diesem Freitagmorgen auch die drei betroffenen Klassen wieder. "Ihr müsst jetzt ganz fest zusammenhalten", sagen ihnen die Psychologen.

Vom Wohnhaus des Täters im Nachbarort Weiler zum Stein sind die Übertragungswagen inzwischen abgezogen. Tims Eltern und seine jüngere Schwester sind weiterhin untergetaucht, doch über die Familie werden immer mehr Details bekannt.

Neben dem Video vom letzten Schusswechsel in Wendlingen ist bei Youtube auch ein Film zu sehen, der Tim beim Armwrestling zeigt. Jeden zweiten Montag trainierte er beim KSV Ispringen in der Nähe von Pforzheim. Sein größter Erfolg: Platz vier bei den deutschen Meisterschaften 2008 in der Kategorie "Linker Arm, Junioren, über 70 kg". Armdrücken und Tischtennis waren offenbar die einzigen Disziplinen, in denen Tim Beachtung fand.

Er war kein guter Schüler, Freunde hatte er kaum, auch bei den Mädchen kam er nicht gut an. In ein Mädchen aus der Nachbarschaft soll er verliebt gewesen sein. An Silvester, so erzählen Mitschüler, habe er das Mädchen angerufen und seine Liebe gestanden. Das Mädchen und die anderen Partygäste hätten nur gelacht.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Tim vor wenigen Wochen zum Thema Waffen und Amoklauf in einem Schulaufsatz schrieb.

Pädagogisch begabt

Auch eine Lehrerin von Tim hat sich inzwischen zu Wort gemeldet. Bis Dienstag hat Theresia Zurhorst den 17-Jährigen an seiner kaufmännischen Schule in Ethik und Deutsch unterrichtet. Erst vor wenigen Wochen hat sie die Klasse einen Aufsatz über das Thema "Verschärfung der Waffengesetze, ja oder nein?" schreiben lassen. Eine ganze Unterrichtseinheit habe sie dem Thema Computerspiele, Amoklauf in Erfurt und der Reaktion des Staates darauf gewidmet, erzählt sie der Winnender Zeitung.

An Tims Aufsatz kann sich Zurhorst noch genau erinnern. Tenor: Auf Menschen dürfe man nicht schießen, Regeln müssten eingehalten werden. Michael, 19, ein ehemaliger Freund und Nachbar berichtet, Tim habe eigentlich eher "was in die pädagogische Richtung" machen wollen. "Er konnte gut mit Kindern."

Geheimer Ort für die Opfer

Stattdessen besuchte er eine kaufmännische Klasse. Möglicherweise sollte er ja einmal das Familienunternehmen weiterführen. Der Vater besitzt im Nachbarort Affalterbach eine Verpackungsfirma, etwa 20 Leute arbeiten dort. Die Mutter hat gelegentlich als Bürokraft ausgeholfen. "Das waren wirklich rechtschaffene, fleißige Leute", erzählt eine Nachbarin, die im Vorgarten ihres Hauses steht.

Die Zahl der Lehrer an der Albertville-Realschule soll nun um die Hälfte aufgestockt werden. An Unterricht wird in den nächsten Wochen allerdings nicht zu denken sein - ebenso wenig wie an eine Rückkehr in das alte Schulgebäude. Die Nachbargemeinden haben bereits ihre Hilfe angeboten: Mit Bussen sollen die Jugendlichen klassenweise auf die umliegenden Ortschaften verteilt werden.

An einem Ort, der nach dem Willen der Winnender geheim bleiben soll, sind inzwischen die Leichen der 15 Opfer aufgebahrt worden - darunter auch die Frau eines Polizisten, der bei dem Amoklauf im Einsatz war. 26 Jahre war sie alt und unterrichtete Physik. Bereits an diesem Samstag, sagt Bürgermeister Bernd Fritz, sollen die ersten Opfer beerdigt werden.

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