Amerikanische Prüderie:Hauptsache alles bleibt drin

Amerikaner sind besessen von Büstenhaltern in allen Variationen. Aber sehen soll man sie lieber nicht. So betrachtet lag der eigentliche Super-Bowl-Brust-Skandal weniger in zu viel Busen als in zu wenig BH.

Von Wolfgang Koydl

Doch etwas Gutes hatte die Popout-Brust von Janet Jackson ja doch: Selbst überzeugte Verschwörungstheoretiker können nun nicht mehr spekulieren, dass Michael und Janet Jackson ein und dieselbe Person sind. Denn was Janet aus dem Leder-Bustier sprang, kann Michael unmöglich unter seiner schmalen Hemdenbrust verstecken, noch nicht mal mit dem stärksten Minimizer.

Sie wissen nicht, was ein Minimizer ist? Er ist das Gegenstück zum Pushup, also ein Büstenhalter, der die Oberweite dort verkleinert, wo der andere sie um entscheidende Zentimeter, sagen wir mal, überhöht.

Merkwürdigerweise erfreuen sich in den USA beide Modelle gleich großer Beliebtheit, was einerseits tiefe Einblicke in die weibliche Psyche erlaubt, andererseits einem Umstand geschuldet sein mag, der im Ausland eher unbekannt ist: Amerikaner und Amerikanerinnen sind besessen von Büstenhaltern. Vor einigen Jahren wollte ein Kalifornier dies würdigen und BHs über den Grand Canyon spannen. Leider schlug das Unternehmen fehl. Christo wäre vor Neid zersprungen.

So betrachtet lag der eigentliche Skandal der "Garderoben-Fehlfunktion", wie es Justin Timberlake in einer sprachlichen Anleihe bei der Mars-Mission der NASA nannte, weniger in zu viel Busen als in zu wenig BH. Auf jedes andere Kleidungsstück scheint die amerikanische Frau eher verzichten zu können als auf ihren Bra, und auch das singende Skandal-Duo hatte ja in einer ersten lahmen Ausrede beteuert, dass eigentlich ein Spitzenbüstenhalter zum Vorschein hätte kommen sollen - wenn auch, ach du meine Güte!, in Rot.

Jim freilich hätte auch dabei rot gesehen. "Zutiefst empört", sei er gewesen, "moralisch entrüstet, ja angewidert", als er bei Bier und Chips mit Frau und Tochter die Showeinlage von Jackson und Timberlake beim Football-Spiel verfolgte. Die kleine Emmy sei in der Halbzeitpause zum Glück schon beim Zähneputzen im Bad gewesen. "Wie hätte ich ihr das erklären sollen!" An solchen Tagen erkennt man wieder einmal, dass mehr als der Atlantik die alte und die neue Welt trennt. Jim ist kein frömmelnder Heuchler, genauso wenig wie John oder Greg und all die anderen Nachbarn. "Ihr Europäer seid ja alle ein wenig oh la la", sagt Greg. Bei soviel Prüderie ist es verständlich, dass man sekundäre Geschlechtsmerkmale in Büstenhalter verpackt.

An manchen Tagen springen einen in der ansonsten anständigen Washington Post auf jeder Seite Rüschen, Spitzen und Schleifen entgegen, wenn die Kaufhauskette Hecht zum Bra-Sale ruft: "Buy two, get two free", heißt es da, was wiederum statistische Rückschlüsse auf die Menge der in amerikanischen Schränken gehorteten Unterwäscheoberteile zulässt.

Da überrascht es nicht weiter, dass der Bra - der sich schamvoll vertuschend vom französischen Brassiere für Oberarm ableitet - eine amerikanische Erfindung war, obschon diese Erfolgsgeschichte viele Mütter hatte.

Die Pionierin war Marie Tucek, die schon 1893 und damit Jahre vor Henry Ford ihr "Model T" vor-stellte. Zum Durchbruch verhalfen dem BH 1913 Mary Phelps Jacob und der Erste Weltkrieg: Nachdem das Amt für Kriegsindustrie die Amerikanerinnen gebeten hatte, aus patriotischen Gründen enge Korsetts durch luftige BHs zu ersetzen, wurden schlagartig 28.000 Tonnen Metall für Panzer und Pistolen frei.

Es ist also nicht falsch zu sagen, dass US-Büstenhalter seinerzeit den deutschen Kaiser mit niedergerungen haben. Heute, wo Amerika abermals patriotisch wogt, hätte auch Janet Jackson einen Helden-Bra anlegen können. Ein Modetipp für den nächsten Auftritt: Das Modell Beverly Hills Cop. Links passt ein Colt mit abgesägtem Lauf rein, rechts eine Dose Pfefferspray.

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