Trauer nach Blutbad in Colorado:Amerika sucht nach Antworten

Vier Waffen, 6000 Stück Munition und Sprengfallen in der Wohnung: James Holmes hatte seine Tat minutiös geplant. Amerika rätselt über das Motiv des Studenten, der zwölf Menschen in der Batman-Premiere erschoss und sich als "Joker" verkleidet hatte.

Matthias Kolb, Washington

Für Amerikas Nachrichtensender gibt es momentan nur ein Thema: Das Blutbad im Century-Aurora-16-Kinokomplex in Colorado, bei dem während der nächtlichen Premiere des Films "Batman - The Dark Knight Rises" zwölf Menschen starben und Dutzende verletzt wurden. CNN schickte seinen Star Anderson Cooper an den Tatort, um live über das "Massacre in Theater 9" zu berichten, während der Freitagabend beim konservativen Kabelsender Fox News unter dem makabren Motto "Midnight Movie Massacre" stand.

Stundenlang erörterten die Moderatoren mit Live-Schalten, Korrespondentengesprächen und durch Interviews mit Augenzeugen jene Fragen, die das unter Schock stehende Land martern: Warum drang der 24-jährige Student James Holmes um Mitternacht in den Kinosaal 9 ein und schoss kaltblütig in die Menge? Hatte er ein Motiv, und gab es Anzeichen für die Tat, die Freunde, Bekannte und Familienangehörige übersehen hatten?

Dan Oates, der Polizeichef von Aurora, konnte oder wollte keine Antworten auf diese Fragen geben, doch er fasste in einer Pressekonferenz den Kenntnisstand zusammen: Zwölf Menschen sind gestorben, 58 weitere Kinobesucher wurden verletzt, von denen elf in Lebensgefahr schweben. Oates machte keine Angaben zu einem Motiv des mutmaßlichen Täters, der von einem Anwalt vertreten werde und offenbar nur wenig mit der Polizei kooperiere. Was der Polizeichef jedoch über Holmes' Ausrüstung und Vorbereitungen berichtete, klingt nach einem minutiös geplanten Wahnsinn. Der 24-Jährige war komplett in schwarz gekleidet, er trug eine kugelsichere Weste, einen Kampfhelm samt Gasmaske sowie Handschuhe. Auch seine Beine waren durch kugelsichere Spezialkleidung geschützt. Er hatte in den letzten zwei Monaten vier Waffen auf völlig legale Weise erworben: Eine Pistole ließ er im Auto vor dem Kino, bevor er mit einer Pistole, einer Schrotflinte und einem Sturmgewehr vom Typ AR-15 in den Saal lief und das Feuer eröffnete.

"Über das Internet hat der Verdächtige am 2. Juli 6000 Stück Munition bestellt", teilte Oates mit. Dem Polizeichef zufolge hatte er ein Spezialmagazin für das Sturmgewehr erworben, mit dem er etwa 50 bis 60 Kugeln pro Minute abfeuern konnte. Bei der Festnahme auf dem Parkplatz habe er keinen Widerstand geleistet. CNN und Fox News berichteten unter Berufung auf Ermittlungsbeamte, dass der Mann sich die Haare rot gefärbt hatte und den Beamten erzählt habe, er sei der "Joker" - also einer von Batmans Widersachern in den Comics und Filmen.

Bevor sich Holmes auf den Weg zum acht Kilometer entfernten Kinokomplex machte, präparierte er seine Wohnung "auf fachmännische Weise" mit Sprengsätzen. Die Beamten hätten sich mithilfe eines Roboters sowie einer an einer Stange befestigten Kamera einen Überblick verschafft und dabei eine komplizierte Konstruktion aus Sprengstoff, Drähten, entzündlichen chemischen Substanzen sowie mit Flüssigkeiten gefüllten Bechern entdeckt. "So etwas haben wir noch nie gesehen", sagte Polizeichef Oates. Sicherheitshalber wurden neben dem Wohnhaus des Täters auch vier umliegende Apartmenthäuser evakuiert. Nach mehreren Stunden wurde die Arbeit der Experten auf Samstag verschoben, es werde auch der Einsatz von Spezialrobotern erwogen.

Offenbar wollte Holmes durch die Vorrichtungen weitere Menschen töten oder verletzen. Medienberichten zufolge hatte er den Ermittlern gesagt, dass sich Sprengstoff in der Wohnung befinde, die Sprengfallen habe er jedoch nicht erwähnt. Nachbarn berichteten, aus Holmes' Apartment sei ein Techno-Song in voller Lautstärke und in Dauerschleife gedröhnt. Sie habe an die Tür geklopft, sagte die 20-jährige Kaitlyn Fonzi der Denver Post, und auch bemerkt, dass die Wohnung offen war. Sie habe sich jedoch entschlossen, nicht einzutreten.

Andere Nachbarn, die in dem für Medizinstudenten reservierten Gebäude wohnten, beschrieben ihn als "Einsiedler". Der Denver Post zufolge beschrieb er sich in einer Wohnungsanzeige Anfang des Jahres als "still und locker". Den ganzen Tag über hatten Journalisten und Blogger versucht, mehr über James Holmes auf Facebook, Twitter und in anderen sozialen Netzwerken herauszufinden, doch keiner wurde fündig - offenbar war der 24-Jährige nicht unter seinem echten Namen im Netz unterwegs (die Online-Suche ist sehr gut auf der US-Website Mashable beschrieben). Ein Ermittlungsbeamter sagte dem Sender CBS, gegen Holmes sei nie ermittelt worden: "Er befand sich offensichtlich unter dem Radar."

Herausragender Student - "der Beste der Besten"

Als sicher gilt jedoch, dass der Tatverdächtige in San Diego zur Schule ging. 2010 erhielt er seinen Abschluss in Neurowissenschaften an der University of California Riverside. Laut Timothy White, dem Kanzler der Uni, war er ein herausragender Student, "der Beste der Besten". In Colorado hatte sich Holmes 2011 für einen Promotionsstudium eingeschrieben, doch nach Angaben einer Universitätssprecherin hatte er das Programm freiwillig verlassen.

Die 17 Jahre alte Christine Mai, deren Familie direkt neben den Holmes in San Diego wohnt, sagte der Denver Post, sie habe bei James niemals ein "gewalttätiges oder unangemessenes Verhalten" beobachtet. Ihr Vater berichtete, James habe nach seinem Abschluss Probleme bei der Jobsuche gehabt und zwischenzeitlich bei McDonald's gejobbt, um seinen Studentenkredit abzubezahlen. Er könne sich nicht erinnern, dass der Nachbarsohn jemals Parties gefeiert oder eine Freundin mit nach Hause gebracht habe, so Tom Mai. Er habe James als sehr fleißig und intelligent in Erinnerung, oft habe der junge Mann den Rasen gemäht und das Auto gewaschen.

Unterdessen brachte Batman-Regisseur Christopher Nolan seine "tiefe Trauer" über das Blutbad zum Ausdruck. In einer Mitteilung im Namen der Schauspieler und Mitwirkenden von "The Dark Night Rises" sprach der britisch-amerikanische Regisseur von einer "sinnlosen Tragödie", wie das US-Branchenblatt Hollywood Reporter berichtete. "Das Kino ist mein Zuhause. Die Vorstellung, dass jemand diesen unschuldigen und erwartungsvollen Ort derart brutal entweiht, ist einfach verheerend", so Nolan. Er sprach den Opfern und ihren Familien seine Anteilnahme aus.

Obama und Romney äußern sich nicht über die Waffengesetze

US-Präsident Barack Obama und sein republikanischer Herausforderer Mitt Romney setzten ihre Wahlkampftermine aus und sprachen den Opfern ihr Beileid aus. Zugleich verlor keiner ein Wort über Amerikas Waffengesetze. Die Diskussion über strengere Regelungen nahm im Programm von CNN und dem linksliberalen Sender MSNBC breiten Raum. Ähnlich wie sein New Yorker Amtskollege Michael Bloomberg forderte Philadelphias Bürgermeister Michael Nutter eine Diskussion über das Thema. Nutter zufolge sterben in Amerikas Großstädten täglich Menschen durch den Einsatz von Schusswaffen - und die Politik sehe tatenlos zu.

Auch Piers Morgan, Talkshow-Moderator bei CNN, kam immer wieder auf das Thema Waffengesetze zu sprechen. "Was denken Sie, wenn Sie hören, dass der Täter 6000 Stück Munition im Internet bestellen konnte?" fragte der Brite den 25-jährigen Augenzeugen Jamie Rohrs. "Das darf nicht sein, das ist doch schrecklich, diese Waffen sind so zerstörerisch. Sie schießen so schnell", antwortete Rohrs, der mit seiner Verlobten und zwei Kindern in der Batman-Vorstellung war.

Der sichtlich bewegte Morgan befragte auch Colin Goddard, der 2007 das Massaker an der Virginia Tech University überlebte und nun für strengere Waffengesetze wirbt. "Die Amerikaner müssen den Politikern klar machen, dass sie dies nicht mehr hinnehmen wollen", sagte Goddard. Bisher sei es leider so, dass nach jeder Schießerei Mitleid bekundet und Reden gehalten würden, doch faktisch ändere sich nichts. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass der Erwerb des Sturmgewehrs AK-15, mit dem Holmes um sich geschossen haben soll, bis 2004 verboten gewesen war.

Diese Regelung wurde auf Druck der Lobbyorganisation "National Rifle Association" (NRA) wieder aufgehoben. Die NRA sprach in einem Statement ihr Mitgefühl mit den Familien der Opfer aus und teilte mit, man werde sich erst wieder äußern, "wenn alle Fakten bekannt seien". Anders argumentierte Luke O'Donnell, der Sprecher der "Rocky Mountain Gun Owners", in der New York Times: Hätte einer der Kinobesucher einen Waffenschein gehabt und seine Pistole in das Century-16 -Kino mitgebracht, dann wären womöglich weniger Menschen getötet oder verletzt worden.

Bei Fox News, dem Haussender der amerikanischen Konservativen, wurde nur wenig über Waffengesetze diskutiert. Moderator Sean Hannity orakelte, dass die Linke nun wieder alles daran setze, das im Second Amendment garantierte Recht auf Waffenbesitz zu beschneiden. Anschließend wollte er von seinem Studiogast, einer Psychologin, wissen, ob Holmes nicht "ein zutiefst böser Mensch" gewesen sei, der sich durch nichts hätte aufhalten lassen. Und Bill O'Reilly, den Star des Kabelsenders, beschäftigte eine andere Frage viel mehr: "Wieso haben so viele Eltern ihre Kinder mit ins Kino genommen und so deren Leben riskiert? Können die sich keinen Babysitter leisten?"

James Holmes, der mutmaßliche Täter soll an diesem Montag vor Gericht erscheinen. Amerikas Kabelsender werden sich noch viele Stunden mit diesem Fall beschäftigen - auf ihre eigene Art.

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