Protokoll:Die fatale Intuition der Piloten

Dreieinhalb Minuten Sturzflug: Die Piloten der Air-France-Maschine, die vor zwei Jahren vor Brasilien abstürzte, machten der Unfalluntersuchung zufolge schwere Fehler. Sie zogen die Nase des Fliegers hoch, als der Autopilot ausfiel - das Gegenteil wäre richtig gewesen.

Jens Flottau

Die Piloten des im Juni 2009 abgestürzten Air France-Airbus haben in den letzten dreieinhalb Minuten des Fluges die Kontrolle über die Maschine verloren. Nach Angaben der französischen Unfalluntersuchungsbehörde BEA riss wegen der zu geringen Geschwindigkeit die Strömung an den Tragflächen ab. Dadurch verlor der Airbus den Auftrieb und sank in Richtung Meeresoberfläche, ohne dass die Besatzung den Sturzflug hätte abfangen können.

File image published on the website of France's BEA air accident inquiry shows the plane's Cockpit Voice Recorder

Der Stimmenrekorder aus dem Cockpit des Airbus A330-200.

(Foto: REUTERS)

Der Airbus A330-200 war am Abend des 31. Mai 2009 mit 228 Menschen an Bord von Rio de Janeiro aus in Richtung Paris gestartet. Vor der brasilianischen Atlantikküste, mitten in der für schwierige Wetterbedingungen bekannten intertropischen Konvergenzzone vereisten offensichtlich die außen am Rumpf angebrachten Pitot-Sonden. Dadurch erhielt der Bordcomputer offenbar falsche Geschwindigkeitsdaten und schaltete mehrere automatische Systeme ab. Was genau sich dann zutrug, war bislang nicht zu rekonstruieren.

Doch nach fast zwei Jahren und insgesamt fünf Expeditionen gelang es vor wenigen Wochen, die Flugschreiber zu orten, die mittlerweile in den Labors der BEA analysiert werden. Die nun bekannten Daten werfen vor allem Fragen zum Verhalten der Piloten auf. Ein Strömungsabriss ist mit den richtigen Techniken in der Regel abzufangen, die Air France-Piloten haben aber womöglich falsch reagiert. Gemäß dem am Freitag veröffentlichten Datenblatt waren zunächst nur die beiden Copiloten im Cockpit, der Kapitän machte turnusgemäß seine Pause. Kurz vor den dramatischen letzten Momenten wies die Crew die Kabinenbesatzung auf Turbulenzen hin, machte eine leichte Linkskurve und drosselte die Geschwindigkeit leicht.

Plötzlich schaltete sich der Autopilot ab, und ein Warnsignal, das auf den Strömungsabriss hindeutet, ertönte zweimal. Die angezeigte Geschwindigkeit sank von 275 auf nur noch 60 Knoten. Die Piloten gaben maximalen Schub und zogen die Nase des Flugzeuges nach oben, um die Höhe zu halten. Zahlreiche Tests in Simulatoren und Erfahrungsberichte aus dem Alltag haben ergeben, dass dies die intuitive Reaktion vieler Piloten ist. Tatsächlich aber wäre das Gegenteil angemessen. Experten empfehlen, in einer solch kritischen Lage die Höhe zu missachten und die Flugzeugnase nach unten zu senken. Dadurch könne die Maschine wieder Fahrt aufnehmen und anschließend abgefangen werden.

Es gibt Anzeichen dafür, dass die Pitot-Sonden nach weniger als einer Minute wieder funktioniert haben, denn sowohl die Haupt- als auch die Ersatzanzeige meldeten wieder die gleiche Geschwindigkeit. In ihrem Bemühen, die Höhe zu halten, ließen die Piloten die Maschine sogar um rund 1000 Meter steigen, ohne allerdings wieder an Fahrt aufzunehmen.

Scharfe Auseinandersetzung zwischen Airbus und Air France

Als der Kapitän schließlich ins Cockpit kam, sank der Airbus schon extrem schnell in steilem Winkel. Weitere Rettungsversuche scheiterten. Der Jet prallte mit einer vertikalen Geschwindigkeit von mehr als 3000 Metern pro Minute auf die Meeresoberfläche und zerschellte. Alle 228 Menschen an Bord, darunter 28 Deutsche, kamen ums Leben.

Vor allem in den vergangenen Wochen hat hinter den Kulissen eine ungewöhnlich scharfe Auseinandersetzung zwischen Airbus und Air France über die Verantwortung für den Unfall stattgefunden. Airbus hatte seinen Kunden Mitte Mai mitgeteilt, dass diese nach einer ersten Auswertung der Daten mit keinen neuen Empfehlungen des Herstellers rechnen müssten. Zuvor hatte sich allerdings auch Air France zumindest halböffentlich darüber beschwert, dass Airbus zu spät und nicht konsequent auf die sich häufenden Pannen mit den Pitot-Sonden reagiert habe.

Airbus äußerte sich nach der BEA-Veröffentlichung betont verhalten und bezeichnete sie als wichtigen Schritt, um die genaue Abfolge rekonstruieren zu können. Air France versuchte, das Verhalten der Piloten zu verteidigen. Die Crew habe "eine vollkommen professionelle Einstellung gezeigt."

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