Absturz von Germanwings-Flug 4U9525:Die Sucht nach Erklärungen

TV cameramen film at the memorial for the victims of the air disaster in the village of Le Vernet, near the crash site of the Airbus A320 in French Alps

Journalisten am Gedenkstein für die Opfer des Absturzes des Germanwings-Flugs in den französischen Alpen.

(Foto: REUTERS)

Alles spricht dafür, dass Andreas Lubitz Flug 4U9525 zum Absturz brachte. Doch was, wenn nicht? Wie beschämt müsste eine Gesellschaft sein, hätte sie das Andenken eines Copiloten geschändet, nur weil alles schnell nach Erklärung verlangte.

Von Detlef Esslinger

Der Absturz über den Alpen hat vermutlich die fürchterlichsten und die besten Seiten des Menschen offenbart.

Nur Menschen sind dazu fähig, Artgenossen aus dem einzigen Grund mit in den Tod zu reißen, dass sie mit ihrem eigenen Leben nicht mehr zurande kommen. Nur Menschen aber auch sind zu einem Mitgefühl, zu einer Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden in dem Ausmaß in der Lage, wie es in dieser Woche zum Beispiel in Seyne-les-Alpes so sichtbar geworden ist. Der ganze Ort hat Betten hergerichtet und eingekauft für Hinterbliebene, ohne ahnen zu können, ob die überhaupt bleiben wollen; im Jugendzentrum haben Dorfbewohner einen Brief an sie deponiert und weiße Rosen dazugelegt. Fast könnte man das Vertrauen ins Gute wiedergewinnen, wenn man hört, wie viele in Frankreich sich kümmern um die Familien von Menschen aus anderen Ländern, die zufällig in ihrer Heimat zu Tode gekommen sind.

Der Absturz hat nicht nur wegen der Zahl der Opfer und der mutmaßlichen Umstände so viel Erschütterung ausgelöst. Die Luftfahrtbranche befördert Menschen von einem Ort zum nächsten. Zugleich jedoch hat sie in einem Land wie Deutschland in den vergangenen ein, zwei Jahrzehnten den Lebensstil verändert. Früher war Fliegen etwas Teures und Exquisites; wer Gelegenheit zu einer Flugreise hatte, wurde bewundert, und Piloten sowieso. Heute, da die Gesellschaft insgesamt reicher und das Fliegen billiger geworden ist, kann fast jeder sich ein Ticket leisten und sich als Teil derjenigen Community fühlen, die man früher nur aus Erzählungen und dem Kino kannte. (Deswegen wohl auch die Gelassenheit, mit der Menschen in ihrer Eigenschaft als Flugpassagiere jede dreistündige Verspätung akzeptieren; doch wehe, derlei passiert bei der Bahn.)

Es ist aber auch zu faszinierend, was alles möglich geworden ist: Die Siebenjährige aus Hamburg kann übers Wochenende zu ihrem Vater, der in München lebt. Das Ehepaar gönnt sich einen Kurztrip nach Rom. Die Schüler aus Haltern am See fahren zum Austausch nicht über die Grenze nach Holland; heutzutage können sie nach Llinars del Vallès, in der Nähe von Barcelona. Da führt der Absturz von Flug 4U 9525 brutal vor Augen, dass dieser Lebensstil doch nicht die Selbstverständlichkeit hat, an die man sich gewöhnt hatte.

Vertrauen ist unverzichtbar

Zu den Eigenschaften des Menschen gehört, dass er ohne Vertrauen kaum lebensfähig wäre, und außerdem, dass er für alles eine Erklärung haben möchte, aber sofort. Man muss darauf vertrauen können, dass das Dach hält, unter dem man schläft und das ein anderer gezimmert hat; dass das Wasser ohne Gift ist, das ein anderer abgefüllt hat; dass im Flugzeugbauch kein Schraubenschlüssel an einer Stelle vergessen wurde, wo er unterwegs auf gar keinen Fall hingehört. Vertrauen ist unverzichtbar, und man denkt auch nicht darüber nach: Es gehört ja so selbstverständlich dazu. Wer hätte bis Donnerstag dieser Woche erwogen, ob ein Germanwings-Pilot auf die Idee kommen könnte, 150 Menschen in eine Felswand zu jagen?

Das Bedürfnis nach Erklärungen

Niklas Luhmann, der große Soziologe, hat Vertrauen als "wirksamere Form der Reduktion von Komplexität" bezeichnet - unsoziologisch gesagt: Wer alles bedenkt, verwirft und wieder bedenkt, der würde zu nichts mehr kommen. Tausend Mal am Tag bleibt einem kaum etwas übrig, als sich auf andere zu verlassen. Seit Donnerstag übrigens auch auf einen Staatsanwalt aus Marseille - nicht auszumalen, falls sich doch noch ein ganz anderer Absturzgrund herausstellte. Wie beschämt müsste eine Gesellschaft sein, hätte sie sich demnächst einzugestehen, das Andenken eines Copiloten geschändet zu haben, nur weil alles schnell nach Erklärung verlangte. Unwahrscheinlich, eine solche Wendung? Was ist schon unwahrscheinlich.

Das Bedürfnis nach Erklärungen hat zwei Schwestern, die jedoch ganz unterschiedlichen Charakters sind: Anteilnahme und Sensationsgier. In der offenen Gesellschaft scheint die eine ohne die andere nicht zu haben zu sein. Pfarrer, Psychologen und Betroffene berichten, wie wichtig es für Trauernde ist, dass die Gemeinschaft und ihre Repräsentanten sich zeigen: dass die Kanzlerin alle Termine absagt und zum Absturzort reist, dass die Nationalelf Trauerflor trägt, dass bei der "Echo"-Verleihung 150 Kerzen brennen. "Trauernden hilft die Ahnung, in einem größeren Ganzen aufgehoben zu sein", schreiben Bernadette und Klaus Rüggeberg in ihrem Buch "Plötzlich tot", das sie als Hinterbliebene ihres verunglückten Sohnes verfassten.

Die Menschen zeigen Anteil, weil sich ihnen Bilder eingebrannt haben: die Kerzen vor der Schule, der aufgelöste Gesichtsausdruck des Direktors. Naturgemäß sind es Medien, die nach einem Absturz das "größere Ganze" erst ermöglichen. Doch wie immer in solchen Fällen schickt die Branche nicht nur ihre diskreten Vertreter, sondern auch die zudringlichen. Liveticker und Sendestrecken brauchen Nachschub, egal mit was; Kameras werden nicht bloß im Rathaus aufgebaut (wozu sie da sind), sondern auch vor Privathäusern (wo sie eine Schande sind).

Als passierte es einem selbst

Der Deutsche Presserat kann sich darauf verlassen, mit Beschwerden eingedeckt zu werden, und zwar mit verständlichen. Doch sind alle Zudringlichkeiten nur die Folge eines unausgesprochenen Pakts zwischen Machern und Lesern/Usern/Zuschauern: Die einen produzieren sie, weil andere es mit Gewissheit nachfragen. Wer die Wucht mancher Medien nun am eigenen Ort erleben darf, hat sich womöglich wenig dabei gedacht, als er einst nicht genug aus Winnenden (Amoklauf) oder Eschede (ICE-Katastrophe) bekommen konnte.

Zum Lebensstil, zum Vertrauen gehört, dass Katastrophen scheinbar immer nur den anderen passieren; dass sie nur im Fernsehen vorkommen. Man muss ja bloß diese Woche überlebt haben; und schon darf man sich persönlich in dieser Erfahrung wieder bestätigt sehen. Ähnlich haben die Passagiere des Germanwings-Flugs ja vielleicht nach Charlie Hebdo selber noch gedacht. Den Familien wäre auch geholfen, wenn jeder sich so verhielte, als passierte es beim nächsten Mal nicht den anderen, sondern einem selbst.

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