Kinder leiden unter Haftstrafe der Eltern:Papa ist auf Montage

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Mehr als 20.000 Familien in Deutschland fehlt ein Elternteil, weil die Mutter oder der Vater im Gefängnis sitzt. Besonders traumatisch ist das für die Kinder: Sie werden häufig über den Verbleib des abwesenden Familienmitglieds belogen, viele entwickeln psychische Auffälligkeiten. Betreuungsangebote gibt es bislang kaum.

Heribert Prantl

Kinder dürfen vom Staat nicht bestraft werden. Das Strafrecht lässt sie in Ruhe bis sie 14 Jahre alt sind, das steht so im Gesetz. In der Realität ist es aber anders: Das Strafrecht lässt Kinder keineswegs in Ruhe. Es sperrt sie zwar nicht im Gefängnis ein - und Jugendliche auch nur selten. Aber die Kinder sind, wenn Vater oder Mutter inhaftiert werden, mitbestrafte Dritte.

Eine Lobby haben diese Kinder nicht. Im Vollzugsalltag kommen sie allenfalls in den kärglichen Besuchsstunden vor: Statt eine Stunde im Monat, das ist der gesetzliche Mindestanspruch, gewähren die meisten Haftanstalten, um den Kontakt zur Familie zu erleichtern, eine Stunde in der Woche - unter Aufsicht. Eine psychosoziale Betreuung der Kinder von Gefangenen durch den Strafvollzug existiert nicht. Ob sich Jugendämter oder Schulpsychologen um sie kümmern, bleibt dem Zufall überlassen.

Die Fachzeitschrift Forum Strafvollzug hat dem Problem soeben ein Heft gewidmet. Es ist ein sehr grundrechtsrelevantes Problem: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung", heißt es nämlich im Artikel 6 Grundgesetz. Wenn ein Vater oder eine Mutter eingesperrt ist, gilt das offenbar nicht mehr.

"Mama, wo ist dein Bett?"

Und so sieht das Problem im kriminalistischen Alltag aus: Gegen eine Beschuldigte wird ein Haftbefehl erlassen. Die Polizei nimmt die alleinerziehende Mutter am Vormittag fest. Als ihr Sohn von der Schule kommt, erzählt ihm die Oma, was passiert ist. Erst nach Tagen darf er die Mutter besuchen. Er ist schockiert: "Mama, wo ist dein Bett?" Er weiß nicht, wann sie wieder zu Hause sein wird; sie kann es ihm auch nicht sagen.

Meist sind allerdings nicht Mütter, sondern Väter eingesperrt: 95 Prozent der Strafgefangenen in Deutschland sind Männer. Es gibt keine Statistiken darüber, wie viele davon Kinder haben; nach Schätzungen sind es zwei Drittel. Das bedeutet: In Deutschland sind 20.000 Familien mit Kindern und Jugendlichen davon betroffen, dass der Vater im Knast sitzt.

Die verbleibenden Familienmitglieder geraten, so nennen das die Experten, in einen "desorganisierten Zustand". Fast die Hälfte der Mütter, so das Forum Strafvollzug, versucht dann, die Kinder zu täuschen: Sie erzählen also, der Vater sei "auf Montage", "im Krankenhaus" oder "auf Kur". Der Zeitpunkt der Rückkehr wird dann immer weiter hinausgeschoben. Die Kinder zweifeln an der Zuverlässigkeit des Vaters, viele werden psychisch auffällig.

Die Europäische Union hat ein Forschungsprogramm aufgelegt, das in fünf Ländern jeweils 200 Kinder inhaftierter Eltern untersuchen und dann Vorschläge machen soll, wie man das familiäre Umfeld besser in die Vollzugsplanung aufnehmen kann.

In Ulm gibt es ein - in Deutschland einmaliges - Projekt, das sich um die Eltern-Kind-Beziehung kümmert, wenn ein Elternteil inhaftiert ist: In einem von der Baden-Württemberg-Stiftung geförderten "Projekt Chance" versuchen Betreuer, "den Inhaftierungsschock beim Kind zu mindern, die Phase des geschlossenen Vollzugs zu überbrücken und den Übergang in die Freiheit zu bahnen". Fünfzig Fälle im Jahr kann der Verein derzeit betreuen.

Das ist Resozialisierung - aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Dabei steht die Resozialisierung schon seit 35 Jahren als Ziel des Strafvollzugs im Gesetz.

© SZ vom 28.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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