Amoklauf von Winnenden:Der Normalität gefährlich nahe

Wie viel Schuld trägt die Gesellschaft an Amokläufen? Nur wenige junge Männer werden zu Tätern. Doch viele Jugendliche quält das Gefühl, gescheitert zu sein.

Thomas Steinfeld

Jedes Mal, wenn ein Jugendlicher plötzlich um sich geschossen und Schüler, Lehrer, Passanten getötet hat, lassen die Deutungen nicht lange auf sich warten. Es sei die Tat eines Einzelnen gewesen, lautet die eine Erklärung, das Werk eines unscheinbaren Menschen mit "doppelter Identität". Schnell sind die Lebensumstände beisammen: die Nähe zu Waffen, die schwarze Kluft, vielleicht die Computerspiele. "Unfasslich" heißt die andere Erklärung, und dann wird im Kollektiven spekuliert: über Einsamkeit, Sinn und Verantwortung, über (vertane) Lebenschancen und die grausamen Seiten von Leistungsdruck und Erfolgsverpflichtungen.

Amoklauf Emsdetten; ddp

Auch Sebastian B., der Amokläufer von Emsdetten, fühlte sich als Verlierer.

(Foto: Foto: ddp)

Doch nur sehr schlecht passen diese beiden Erklärungsversuche zusammen: Der eine erklärt die Tat zu einem extremen Sonderfall, für den die Gesellschaft keine Verantwortung zu tragen habe, zur absoluten Ausnahme. Der andere macht die Gesellschaft in einer Weise verantwortlich, die unmittelbar die Frage nach sich ziehen müsste, warum sich solche Massaker nicht noch viel öfter ereignen - unterstellen dem Amokläufer also ein hohes Maß an Normalität.

Amokläufe von Schülern sind ein junges Phänomen. In Deutschland beginnen sie Ende der neunziger Jahre, nach dem Blutbad von Littleton in Colorado. Seitdem bilden sie eine Kette von Bluttaten, an die man sich, wie bei Schlachten, durch Nennung der Ortsnamen erinnert: Meißen, Erfurt, Emsdetten. Aber warum gab es solche Amokläufe vorher nicht? Und warum gibt es allen Grund zu der Befürchtung, es werde dergleichen noch häufiger geschehen? Was hat sich in den vergangenen Jahren geändert, bei jungen Menschen, in der Gesellschaft? Einzelgänger, Waffennarren und Gewaltliebhaber hatte es schließlich vorher auch schon gegeben. Und Verlierer, Opfer von Konkurrenz und Leistungsdruck, hatte die freie Marktwirtschaft - und nicht nur diese - auch schon vor ihrem Übergang in die jüngste Stufe der Globalisierung, auch schon vor Hartz IV und Mini-Jobs hervorgebracht.

Im Abschiedsbrief, den Sebastian B., der Amokläufer von Emsdetten (2006), hinterließ, heißt es, ein "Verlierer" zu sein sei alles, was die Schule ihm "intensiv" beigebracht habe. Doch sei auch er ein Mensch, der es wert sei, "beachtet zu werden": "Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst! ... Ich will, dass sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt!" Wenn es einen Weg gibt, um die Amokläufe von Schülern zu verstehen, dann liegt er in solchen Sätzen verborgen: in der Verbindung zwischen der Wahrnehmung, gescheitert zu sein, und dem Anspruch auf Anerkennung, den anscheinend nur der Erfolgreiche erheben kann. Der eigene - tatsächliche oder auch nur vermeintliche - Misserfolg wird als fundamentale Verletzung des Selbstwertgefühls empfunden. Das aber ist alles andere als ungewöhnlich: Denn der Glaube, der Schlüssel zum Erfolg liege in einem selber und dabei nicht zuletzt im eigenen Selbstbewusstsein begraben, gehört zur psychischen Grundausstattung unserer Gesellschaft.

Doch schießt nicht jeder junge Mann um sich. Es werden nur äußerst wenige junge Männer zu Amokläufern. "Es gibt für mich jetzt nur noch eine Möglichkeit, meinem Leben einen Sinn zu geben", schrieb der Amokläufer von Emsdetten. Es gibt auch - und fast möchte man dabei von "Glück" sprechen - nur wenige Menschen, die die Ehre zu dem einen, allen anderen übergeordneten, entscheidenden Lebensinhalt machen. Ausnahmezustand und Normalität liegen dabei näher beieinander, als die Politiker, die nun von einer "in keiner Form erklärbaren Tat" reden, wahrhaben möchten. Doch wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, ein solches Verbrechen zu verstehen - und ein zukünftiges vielleicht sogar zu verhindern -, dann kann sie nur darin liegen, über den Wahn der Ehre und Anerkennung um jeden Preis auch bei denjenigen zu reden, die nicht zur Waffe greifen.

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