108-jährige Alice Herz-Sommer:Was die älteste Londonerin von Olympia hält

Alice Herz-Sommer kam 1903 zur Welt - fünf Jahre vor den ersten Olympischen Spielen in London. Der SZ verrät sie, was ihr an sportlichen Wettkämpfen nicht gefällt. Und die 108-Jährige erklärt, warum sie ihr hohes Alter auch auf regelmäßige Leibesübungen zurückführt.

Oliver Das Gupta

Alice Herz-Sommer hat von den Olympischen Spielen nicht viel mitbekommen. Das lag nicht daran, dass sie 108 Jahre alt ist. Vielmehr hat die älteste Londonerin das Ereignis nicht so elektrisiert wie andere Menschen. "Ich interessiere mich nicht so dafür", sagt die Pianistin zur SZ. Weder habe den Ablauf der Spiele "in der Television" verfolgt, noch im Radio. "Da habe ich immer gleich auf Musik umgeschaltet".

Alice Herz-Sommer 2006 in ihrer Wohnung in London Foto: Johannes Honsell und Oliver Das Gupta

Immer "sehr sportiv": Alice Herz-Sommer im Jahre 2006 in ihrer Londoner Wohnung.

(Foto: Johannes Honsell/ Oliver Das Gupta)

Als sie 1903 in Prag geboren wurde, war die Welt noch eine andere. Die böhmische Hauptstadt gehörte noch zum Vielvölkerreich Österreich-Ungarn, in Deutschland regierte der flatterhafte Kaiser Wilhelm II. und London wartete noch auf seine ersten Olympischen Spiele, die 1908 stattfanden.

Damals wie heute sieht Herz-Sommer sportliche Wettkämpfe skeptisch: "Die meisten Menschen beneiden doch den anderen, wenn der besser ist", sagt sie. "Das liegt leider in unserer Natur." Von den einzelnen Menschen hänge es ab, ob die Spiele wirklich zur Völkerverständigung beitrügen.

Freibad-Ausflüge mit Kafka

Von Sport hält die alte Dame dagegen viel: "Das ist das Beste, was man machen kann. Ich bin in meinem Leben selbst sehr viel zu Fuß gegangen." In ihrer Jugend unternahm Herz-Sommer mit einem Freund der Familie lange Spaziergänge oder Ausflüge ins Freibad: Es war der Schriftsteller Franz Kafka.

Wie der weltberühmte Literat stammt auch Herz-Sommer aus einer jüdischen Familie, in der neben Tschechisch auch Deutsch gesprochen wurde. Herz-Sommer war in den 1920er Jahren eine berühmte Pianistin in der Tschechoslowakei. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht wurde Ihre Familie ins KZ Theresienstadt deportiert. Ihre Eltern brachten die Deutschen in ein Vernichtungslager, ihr Mann starb im KZ Dachau an Typhus. Herz-Sommer und ihr Sohn überlebten. Nach dem Krieg emigrierte sie nach Israel, später dann nach London.

Nun ist sie nicht nur die älteste Bürgerin der britischen Hauptstadt, sondern wohl auch die älteste Holocaust-Überlebende. Herz-Sommer, die noch vor wenigen Jahren Besuchern ohne Gehstock auf der Straße vor ihrem Haus entgegenkam, wohnt nach wie vor in ihrer eigenen Wohnung. Sie sehe und höre zwar schlechter, sagt die 108-Jährige, "aber ich habe wenigstens keine Schmerzen."

Sport, Musik, Optimismus - und kaltes Wasser

Ihr hohes Alter führt sie auch auf Leibesübungen zurück: Sie sei in ihrer Jugend stets "sehr sportiv" gewesen, obendrein habe es zum Waschen nur kaltes Wasser gegeben. "Als Kind ist das unerfreulich, aber es härtet ab." Außerdem glaubt Alice Herz-Sommer, dass der Wesenszug, "immer das Gute im Menschen zu suchen und zu erkennen", ihr geholfen hat, Schicksalsschläge wie den Tod ihres einzigen Kindes zu überstehen.

Dieser Eigenschaft - und natürlich der Musik - habe sie ihr langes Leben mit zu verdanken. Klavier spielt sie nach wie vor: "Mit acht Fingern, weil zwei Finger nicht mehr so wollen", sagt Herz-Sommer und fügt kichernd hinzu. "Die zwei Finger machen nicht mehr, was ich will, sondern, was sie wollen."

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