Zweite Stammstrecke in München:"Einen Plan B gibt es nicht"

Der Streit um den Bau der zweiten Stammstrecke in München spitzt sich zu: Während Ministerpräsident Seehofer das Aus schon verkündet hat, sieht MVV-Chef Freitag keine Alternative. Warum die Stadt ohne das Projekt nicht wachsen kann und warum Geldsorgen keine Rolle spielen dürfen.

Marco Völklein und Christian Krügel

SZ: Als MVV-Geschäftsführer müssen Sie mit ansehen, dass das wichtigste Projekt Ihres Verkehrsverbundes gerade von der Politik begraben wird. Was bedeutet das für den MVV?

Stammstrecke S-Bahn, München

Das S-Bahn-System in München ist eines der größten in Deutschland.

(Foto: Carmen Wolf)

Alexander Freitag: Die S-Bahn ist zentraler Bestandteil des MVV-Verkehrssystems, und ohne die Stammstrecke und deren Ausbau wäre der Erfolg von 40 Jahren MVV nicht denkbar gewesen. Wenn wir diesen Erfolg fortschreiben wollen, dann sind wir darauf angewiesen, dass die Infrastruktur der S-Bahn ausgebaut wird. Der Großraum München wird bis 2030 bis zu 250 000 mehr Einwohner haben, die Fahrgastzahlen steigen - wo, wenn nicht hier, soll man denn künftig noch investieren? Die Großinvestition in die zweite Stammstrecke ist deshalb absolut notwendig.

SZ: Wenn das Geld aber nicht reicht, ist es dann nicht sinnvoll, schnell einen Schlussstrich zu ziehen?

Freitag: Nein. Denn dass die zweite Stammstrecke verkehrlich sinnvoll ist, ist ja von keinem der Protagonisten des Finanzierungsstreits je in Frage gestellt worden. Es geht "nur" ums Geld. Einen solchen Streit um die Finanzierung von Nahverkehrsprojekte gibt es aber überall in Deutschland. Wir haben im Bundesverkehrswegeplan viele Projekte mit höchster Priorität, die sinnvoll und wirtschaftlich sind. Angesichts der aktuellen Finanzsituation müsste man die eigentlich alle beerdigen - was aber natürlich nicht geht. Das heißt, Bund und Länder müssen ohnehin Lösungen finden, wie sie zukünftig Investitionen in Straßen und Schienen finanzieren wollen. Deshalb wäre es falsch zu sagen, wir kommen jetzt mit der Finanzierung des Tunnels hier in München nicht weiter, also lassen wir das Projekt gleich ganz sterben.

SZ: Heißt das, die einzige Alternative ist es zu warten?

Freitag: Wir planen jetzt 10 bis 15 Jahre an diesem Projekt. Dafür sind schätzungsweise öffentliche Mittel im zweistelligen Millionenbereich ausgegeben worden. Da kann ich doch nicht kurz, bevor ich Baurecht habe, die Planungen einstellen. Das Mindeste, was man machen muss, ist das Projekt zu Ende zu planen, bis es baureif ist. Dann könnte ich mir ein Moratorium vorstellen, bis die generelle Finanzierung von Infrastrukturprojekten in Deutschland geklärt ist. Das muss aber ohnehin bald passieren, weil bei allen Projekten die Zeit drängt. Wenn ich auf einen Achttausender steige, gebe ich aber doch nicht 50 Meter unter dem Gipfel auf.

SZ: Trotzdem: Es fehlen heute einfach 350 Millionen Euro. Woher sollen die kommen?

Freitag: Entweder vom Freistaat, vom Bund, von der Bahn selbst oder durch neue innovative Finanzierungsformen wie Public Private Partnerships. Was gibt es denn für Alternativen? Da ist jetzt die Rede von einem "Plan B". Eine Reihe von Projekten wird genannt: der Ausbau der S 4-West, eine Ertüchtigung der S 8 zum Flughafen, vielleicht ein Nordtunnel, vielleicht eine Fernbahnanbindung des Flughafens. Diesen "Plan B" gibt es heute praktisch noch nicht. Wenn man ihn seriös erarbeitet, startet man nahezu bei Null. Dann gibt es wieder lange Planungszeiten - an deren Ende man möglicherweise feststellt, dass einem wieder die Finanzierung auf diese Füße fällt. Muss ich dann "Plan B" in zehn Jahren wieder beerdigen? Das Geld des Bundes ist zudem dann womöglich in andere schon baureife Projekte geflossen.

SZ: Brächte denn der Ausbau der S 4-West und der S 8 zum Flughafen nicht zumindest eine gewisse Verbesserung?

Freitag: Ich befürworte das ja. Die Rede ist aber hier nur von zwei S-Bahn-Ästen, wir haben insgesamt aber 13, auf denen sich die Verkehrsbelastung ungefähr gleichmäßig verteilt. Ich kann mir das Geschrei vorstellen, wenn man hier partiell verbessert und dafür andere vernachlässigt. Man läuft also Gefahr, sich bei einem Plan B ganz schnell zu verzetteln.

SZ: Und der Erdinger Ringschluss?

Freitag: Für den gibt es eine positive Wirtschaftlichkeitsbeurteilung - unter der Voraussetzung, dass es eine zweite Stammstrecke gibt. Wenn dieses Projekt nun beerdigt wird, könnte diese Wirtschaftlichkeitsberechnung kippen. Das gleiche gilt für den Ausbau der S 4. Auch hier würden ohne zweite Stammstrecke die Planungen einen Rückschlag erleiden. Der zweite Tunnel behindert also nicht den Ausbau der Außenstrecken oder von potentiellen Maßnahmen eines Plans B, sondern er wirkt verstärkend und unterstützend. Abenteuerlich wird es bei Überlegungen über einen Nordtunnel: Das kann ein Milliarden-Projekt werden - was wissen wir denn heute über dessen Finanzierung? Es ist ja nicht so, dass die Milliarden, die für die zweite Stammstrecke nicht verbaut werden, der Region einfach zur Verfügung stehen. Das Geld ist erst einmal weg, jedes neue Projekt muss neu begründet und finanziert werden. Kurz: Ich weiß heute nicht, wo man die noch fehlenden 350 Millionen Euro her bekommt - ich weiß aber erst recht nicht, woher das Geld für Maßnahmen eines Plan B herkommen sollen.

SZ: Halten Sie den Einstieg privater Investoren über eine ,,Public Private Partnership" für möglich?

Freitag: Die lebt davon, dass irgendwann Mittel an den privaten Investor zurückfließen, etwa beim Straßenbau über die Lkw-Maut. Beim Schienenverkehr reicht die Bayerische Eisenbahngesellschaft als Besteller Stationsgebühren und Trassenentgelte an die Bahn weiter. Wenn man sehr innovativ ist, könnte man sich vorstellen, dass diese Entgelte an einen privaten Investor zurückfließen. Dafür gibt es noch kaum Modelle, angesichts der Bedeutung des Projektes würde es sich aber lohnen, in diese Richtung zu denken.

Das System kommt an seine Grenzen

SZ: Könnte die Bahn nicht von sich aus mehr als die zugesagten 133 Millionen Euro investieren?

Zweite Stammstrecke in München: Alexander Freitag führt die Geschäfte des Münchner Verkehrsverbundes bereits seit 1997.

Alexander Freitag führt die Geschäfte des Münchner Verkehrsverbundes bereits seit 1997.

(Foto: Carmen Wolf)

Freitag: Die jetzige Stammstrecke ist die am dichtesten befahrene Strecke Deutschlands. Da kommen bei der Bahn eigentlich auch entsprechend hohe Beträge über Trassen- und Stationsgebühren herein. Die Bahn ist aber gesetzlich nicht verpflichtet, das Geld dort zu investieren, wo es verdient wird. Ein stärkeres unternehmerisches Interesse könnte ich mir aber vorstellen - zumindest wäre es wünschenswert. Auch an einen Kredit der Bahn, der später vom Bund zurückbezahlt wird, könnte man denken.

SZ: Bis zur Landtagswahl 2013 ist kaum mit einer Lösung zu rechnen. Was bedeutet das für die Leistungsfähigkeit des MVV und die Leiden der Pendler?

Freitag: Man muss die Kirche schon auch im Dorf lassen. Unser S-Bahn-System ist eines der größten der Republik, die Leistungen sind im Grunde in Ordnung. Wir haben relativ neue Fahrzeuge und einen vernünftigen Takt. Das System ist gut, es kommt aber an seine Grenzen. Wir müssen es attraktiver machen, wenn wir noch mehr Leute weg vom Auto bringen und für den MVV gewinnen wollen. Das geht nur mit einer besseren Infrastruktur. Die brauche ich auch, um eine nachhaltige, umweltgerechte Verkehrspolitik zu machen. Und ich brauche sie, um das Wachstum der Metropolregion München, von Ingolstadt bis zum Allgäu, von Landsberg bis Rosenheim, bewältigen zu können. Wenn wir nicht die schlimmsten Engpässe in der Infrastruktur beseitigen, ist der Nahverkehr dem Wachstum der nächsten 30 Jahre nicht gewachsen.

SZ: Aber dafür reicht der Bau eines Tunnels alleine nicht aus.

Freitag: Ich will den Ausbau der S 4-West und der S 8, diese Planungen müssen wir fortsetzen und zu Ende führen. Das Gleiche gilt für den Erdinger Ringschluss wie auch für die anderen Maßnahmen des "Bahnknotens München". Dann müssen wir aber auch über die Grundstruktur des Fahrplans nachdenken. Auf fünf Ästen gibt es einen Zehn-Minuten-Takt in der Hauptverkehrszeit. Vielleicht wäre aber ein 15-Minuten-Takt auf allen Ästen über den ganzen Tag hinweg noch sinnvoller. Davon könnten dann alle Fahrgäste besser profitieren. Das müsste man aber erst noch genauer untersuchen. Bessere Infrastruktur und mehr Fahrzeuge bräuchte es hier aber auch.

SZ: Das heißt: Auch dafür bräuchte es einen zweiten Tunnel?

Freitag: Genau, deshalb kämpfe ich auch so vehement dafür. Ich habe nichts gegen einen Plan B, gegen wichtige kleinere Maßnahmen: Verlängerung von Bahnsteigen, eine Ertüchtigung der Sendlinger Spange, neue Weichentechnik. Das ist alles zusätzlich wichtig und kostet auch Millionen. Aber es ersetzt nicht die zweite Stammstrecke.

SZ: Neue Fahrzeuge, neue Technik - selbst dafür fehlt doch offenbar das Geld. . .

Freitag: Deswegen sage ich: Wenn wir auf das große Projekt verzichten, ist für die vielen kleinen nichts gewonnen. Wir müssen die Finanzierung des Nahverkehrs generell neu lösen - unabhängig vom zweiten Tunnel. Das gilt für die gesamte Republik. Wir dürfen deshalb jetzt nicht einfach eine Planung beerdigen, in die viel Geld gesteckt wurde. Davor warne ich, auch vor Blütenträumen eines Planes B.

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